Awai Cheung formt die Arme auf Brusthöhe in großen Bögen und spricht mit beruhigender Stimme: „Gedanklich umfassen wir einen Baum. Er ist Symbol für Halt. Wir machen drei tiefe Atemzüge.“ Die Teilnehmer des Tai-Chi-Kurses lassen die Luft hörbar ein- und ausströmen. Die Kulisse könnte kaum schöner sein: Die Gruppe turnt ganz spontan in Straßenkleidung am Bug der „Europa 2“. Die Sonne versinkt am Horizont und malt eine goldene Spur auf den Indischen Ozean. Ein leichter Wind sorgt für Erfrischung in der Hitze Südostasiens. Der kleine Luxusliner tuckert gemächlich durch die sanften Wellen, mit Kurs auf Laem Chabang, den Hafen von Bangkok.
„Du behältst deine äußere Kraft, wenn du beständig deine innere Ruhe trainierst“, sagt der Fachmann für asiatische Bewegungskünste. Das ist kein Spruch aus einen chinesischen Glückskeks, das ist sein Lebensmotto. Awai Cheung gehört seit 2006 zu einer Gruppe von Experten, die auf ausgewählten Reisen auf den Schiffen des Anbieters Hapag-Lloyd Cruises mitfahren und das bordeigene Sport-Team unterstützen. „Das Interesse an Achtsamkeits- und Gelassenheitsübungen hat total zugenommen“, sagt der 55-Jährige. Neben dem Training auf See – entweder draußen an Deck oder im Sportraum mit Blick aufs Meer – begleitet er auch Landausflüge und streut hier und da eine kleine Tai-Chi-Übung ein. „Asien ist natürlich ein Heimspiel“, sagt der gebürtige Berliner, dessen Eltern einst aus Hongkong nach Deutschland ausgewandert sind.
Im Tao Dan Park von Ho-Chi-Minh-Stadt hat sich Awai Cheung in aller Herrgottsfrühe mit einem vietnamesischen Kollegen verabredet und macht mit ihm Morgengymnastik in der schwülheißen Luft. Interessierte Gäste dürfen mitmachen – Stadtbesichtigung mal anders. Ein paar Stunden später staunen die Besucher im trubeligen Postamt im Zentrum von Ho-Chi-Minh-Stadt nicht schlecht, als sich ein paar Europäer im Kreis versammeln und mit geschlossenen Augen innehalten. „Drückt mit dem Daumen auf die Außenseite des Zeigefingers“, sagt der Coach und erklärt: „Da sitzt der Dickdarmmeridian. Wenn man ihn aktiviert, schenkt das Ruhe.“ Der 55-Jährige kennt viele solche „kleinen Dinge mit großer Wirkung“. Seine Übungen sind wie eine Hausapotheke für den Geist. Man kann sie immer umsetzen. Kurz durchatmen, sich sammeln, Konzentration wiedergewinnen.
Awai Cheung hat schon an den verrücktesten Orten Tai-Chi praktiziert: neben der Christusstatue auf dem Corcovado in Rio de Janeiro, im Bernsteinzimmer des Katharinenpalasts bei Sankt Petersburg, vor dem Schatzhaus in der jordanischen Felsenstadt Petra, am Strand der Südseeinsel Palau – und auf der Brücke der „Europa 2“. Allerdings war das mit einem der anderen Kapitäne.
Im Moment hat Sören Anderl das Kommando, und der schaltet etwas anders ab: „Am liebsten lese ich ein Buch oder gehe im Spa aufs Laufband“, sagt der 36-Jährige. Vielleicht liegt die Gelassenheit des in Kiel aufgewachsenen Schiffsführers auch an seinen Genen: Seine Großeltern sind tiefenentspannte Schwaben aus Filderstadt bei Stuttgart. „No ned hudla“ ist dort ein wichtiges Lebensmotto. Übersetzt etwa: Bloß keine Hektik!
Das Klischee besagt, dass Seereisefans bequem sind. Man sieht ohne ständiges Kofferein- und -auspacken etwas von der Welt, ansonsten isst und trinkt man gut. Sport ist höchstens ein nötiges Übel, um nach einer Woche nicht mit zwei Kilogramm Körpergewicht mehr die Heimreise anzutreten. Doch die Realität sieht inzwischen anders aus.
Laut der Reiseanalyse 2023 der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen in Kiel sind „Frische Kraft sammeln“ und „Entspannung“ auf Platz zwei der wichtigsten Urlaubsmotive. 65 Prozent der Befragten nennen diese Gründe, Ferien zu machen. Auf Platz eins: der Wunsch nach Sonne und Wärme sowie nach Abstand zum Alltag, beide Motive wurden von 69 Prozent der Befragten genannt.
„Der Trend bei uns geht weg vom Krafttraining und hin zu Gesundheitstraining. Die Nachfrage nach Yoga, Rückengesundheit und Wirbelsäulengymnastik hat zugenommen“, beobachtet Ronny Creutzmann. Der 47-Jährige arbeitet als Personal Trainer an Bord der „Europa 2“. Im Urlaub ist die Schwelle niedrig, im Gym vorbeizuschauen. Ob die Begeisterung zu Hause anhält, ist ungewiss. Doch der erste Schritt ist gemacht.
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