In Schüsseln dampfen Weißwürste. Ab und zu wird ein neuer Maßkrug dazugestellt. Alle Tische sind besetzt. Im Herbstsonnenschein sitzt man und plaudert, isst, trinkt und schaut. Es ist Samstag, es ist Vormittag, das Leben scheint leicht. Flaneure und Touristen sind unterwegs, ein Herr mit langem Bart trägt Kniebundhose, Joppe, Hut und die Frau am Arm. In der gelb-weißen Pfarrkirche St. Peter und Paul hat sich unterdessen eine Trauergemeinde versammelt.
Des Lebens ganze Fülle breitet sich in Oberstaufen aus. Mit Fachwerk und Fresken, Kirche und Cafés kuschelt sich das Städtchen zwischen Hügel und Berge unter weiß-blauem Himmel. Weil ihm die vom Kurarzt Hermann Brosig nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführten Kuren nach Johannes Schroth zu bleibendem Ruhm verhalfen – 1959 wurde es zum einzigen Schrothkurort der Bundesrepublik ernannt, zehn Jahre später zum heilklimatischen Kurort erhoben –, besitzt die Marktgemeinde mit 7800 Einwohnern überdurchschnittlich viele elegante Kur- und Wellnesshotels. Bodenständig ist dieser Flecken des Allgäus dennoch geblieben. So leistet sich das Schrothheilbad mit der höchsten Stufe der Kurortklassifikation sogar den Verzicht auf den Namenszusatz „Bad“.
Das Allgäu ist mit Bergen, Hügeln, Wald, saftigen Wiesen und Wasserfällen sogar so reich gesegnet, dass man hier kurz Atem holen kann, wenn Schreckensmeldungen über die Zerstörung des Planeten an die Substanz gehen.
Denn Schroth allein macht nicht glücklich; selbst Trinktage und auch eine durch Packungen und Diätkost erzielte Entgiftung vermögen daran nicht zu rütteln. Ohne die Natur geht es nicht, und die beginnt gleich vor der Tür. Das Allgäu ist mit Bergen, Hügeln, Wald, saftigen Wiesen und Wasserfällen sogar so reich gesegnet, dass man hier kurz Atem holen kann, wenn Schreckensmeldungen über die Zerstörung des Planeten an die Substanz gehen. Der 1834 Meter hohe Hochgrat, Hausberg Oberstaufens und höchste Erhebung der Nagelfluhkette, rollt die ganze Pracht vor dem Betrachter aus: Auf der einen Seite säumen Alpengipfel den Horizont, auf der anderen erstrecken sich Hügel, der Blick reicht über den Bodensee und nach Oberschwaben. Auf dem Weg ins Tal öffnet jede Biegung neue Panoramen. Kuhglocken läuten, ein Bach gluckert.
Waldbaden: von der Familientradition zur Modeerscheinung
Susanne Gürtler weiß, dass außer dem Glück auch die Gesundheit im Wald zu finden ist. Die Heilpraktikerin und Betreuerin von Fastengästen bietet, obschon seit Kurzem im Ruhestand, noch immer Waldmeditation und Waldbaden an. Was zur Modeerscheinung geworden ist, hat in ihrer Familie Tradition. „Wenn wir als Kinder krank waren, hat uns die Oma immer in den Wald geschickt“, erzählt sie. Auch deren Mutter hatte es schon so gehandhabt und kränkelnde Kinder mit Decke, Wärmflasche, Buch oder Spielzeug ausgestattet und angewiesen, sich im Wald ein schönes Plätzchen zu suchen. Dort blieb das Kind dann den Tag über, lauschte den Geräuschen des Waldes und inhalierte seine Luft. Die Waldtherapie hatte Erfolg: „Wir waren selten beim Arzt“, so Gürtler. Als Teenager erlebte sie den Wald auch ohne Erkältung als tröstlich. Er blieb ihr Rückzugsort, bis heute. „Ich renne nicht durch den Wald, ich setze mich hin und schaue mich um. Farben, Geräusche, Düfte – es ist unendlich faszinierend.“
Oft nimmt sie sich ein Stück Moos mit nach Hause, eine Taschenpackung Wald für den Alltag. „Ich bin dankbar, dass wir diesen Wald haben, der keine kahlen Stellen hat, sondern echt und gesund ist“, sagt Susanne Gürtler. Sie wuchs 20 Kilometer von Oberstaufen entfernt auf. Der Wald ihrer Kindheit war ein Fichtenwald, der unter den Dürresommern der vergangenen Jahre gelitten hat. Der Mischwald außerhalb von Oberstaufen, in dem sie heute Urlauber mit den Geheimnissen des Waldbadens vertraut macht, verkraftet Hitzeperioden besser.
Oberstaufen
Anreise: mit dem Zug ab Stuttgart über Augsburg nach Oberstaufen, www.bahn.de.
Unterkunft: knapp 70 Zimmer verteilen sich in Haubers Naturresort auf das für Fasten- und Kurgäste vorgesehene Landhaus und den Gutshof für Urlauber. Neben Spa und Pool-Landschaft gibt es direkten Zugang zum benachbarten Golfplatz. Doppelzimmer mit Halbpension ab 202 Euro pro Person, www.haubers.de.
Das Hotel Neudeck in zeitgenössischem Alpen-Stil liegt einen kurzen Spaziergang vom Ortszentrum entfernt. Doppelzimmer mit Frühstück ab 98 Euro pro Nacht. www.hotelneudeck.de
Aktivitäten: bis zu 500 Jahre alt sind die Baumveteranen von Steibis und sie machen diesen Ortsteil von Oberstaufen zu einem perfekten Ort für Baumumarmer (auch wenn zwei Arme allein ihre mächtigen Stämme schwerlich umschließen können). Ulmen, riesige Weißtannen, Fichten, Rotbuchen, Eiben und Bergahorne bilden auf knapp über 1000 Meter Höhe überaus eindrucksvolle Naturdenkmale. Die Ureibe von Steibis wird sogar auf 600 Jahre geschätzt. Sie zählt zu den ältesten Bäumen in Deutschland.
Allgemeine Informationen: Haus des Gastes Oberstaufen, www.oberstaufen.de BIS
„Die Natur ist stabiler, als man denkt“, glaubt Klaus Hauber. Der 59-jährige Landwirt und Hotelier hat seit seiner Kindheit in und mit der Natur gearbeitet und beobachtet sie im eigenen, 17 Hektar großen Bergmischwald mit Weißtannen, Buchen, Fichten, Ahorn und Eschen in Meerau am Rand von Oberstaufen. Dort lässt er Wildwuchs zu und forstet zugleich auf. Zudem hat er einen zweieinhalb Kilometer langen Klimapfad angelegt, um Schrothkurgäste und Spaziergänger in den Wald zu locken – „im unglaublich trockenen Sommer des Jahres 2003“, so Hauber, als Schatten und kühles Waldklima Balsam waren.
Zunächst dachte er an einen Pfad zur Quelle, wo er als Kind mit seinen Freunden gespielt hatte. Dann legte er einen Weg an, der zur größeren Wertschätzung der Natur inspirieren soll. 100 Stufen führt er hinauf, dann windet er sich durch den Wald, am Jugetbach und einer Lichtung vorbei. Haubers Liebe zur Natur hat ihre Wurzeln in seiner Kindheit. „Mit sieben, acht Jahren war ich lieber im Wald als in der Schule“, erinnert er sich. In den Siebzigern zog das moderne Leben ein. Eine Dusche ersetzte den Waschtrog, neben dem Hof bauten seine Eltern ein Haus mit acht Gästebetten. 1989 übernimmt Klaus Hauber den Betrieb, zwei Jahre später heiratet er Sigrid. Er ist Landwirt geworden wie sein Vater, sie Hotelfachfrau. 1999 ist aus der Pension ein komfortables Hotel geworden. Alles läuft wie am Schnürchen – bis Sigrid im Herbst 2019 bei einer Bergtour tödlich verunglückt. Die beiden Töchter steigen in den Betrieb ein. Der Sohn wird Tourismuswirtschaft studieren. Sie errichten eine Gedenkstätte mit Blick übers Tal für sie. Ein neues Hackschnitzel-Heizwerk spart 140 000 Liter Öl im Jahr. 40 Prozent des dafür genutzten Waldrestholzes kommen vom eigenen Land, der Rest aus der Region.
Als höchste Erhebung in der Umgebung bietet der Hochgrat unverstellte Fernsicht, motiviert durch die exponierte Position aber auch Wolken, sich an seinem Fuß auszuschütten. Bäche murmeln, eine Eibe bewacht einen Wasserfall. Seit tausend Jahren steht sie hier und beobachtet die Jahreszeiten. Bäume strecken mit samtig grünem Moos bedeckte Äste aus. Dann wird der Wald dichter, bis der Regen unter dem Herbstlaubdach nicht mehr zu spüren ist.
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