Mathias Énard ist der vielleicht wort- und bildmächtigste französische Autor überhaupt, der uns auf abenteuerliche Zeitreisen in unbekanntes Terrain schickt, mit schwerem Bildungsgepäck beladen. Seit dem großen internationalen Erfolg von „Kompass“, für das er 2017 den renommierten Prix Goncourt erhalten hat, erfreut sich eine große Fangemeinde an seinen Büchern.
Nun ist ein neuer Roman erschienen, der auch wieder etwas Neues wagt: Er verknüpft virtuos zwei Erzählstränge, die vordergründig nichts miteinander zu tun haben: Zum einen, das Schicksal eines namenlosen Soldaten in einem Land ohne Namen, der einem unbenannten barbarischen Krieg entflieht, um im Haus seiner Kindheit seine Menschlichkeit wiederzufinden, und zum andern die Lebens- und Liebesgeschichte des berühmten Mathematikers und KZ-Überlebenden Paul Heudeber, eine fiktive Figur, im geteilten Berlin. Zwei Geschichten von Flucht, die parallel ins Unendliche laufen, ein großer Roman der Comédie humaine über Liebe und Verrat, Gewalt und Widerstand in einer von Kriegen erschütterten Welt.
Mathias Énard stellt den Krieg als lebendiges Wesen dar
Énard hat den Roman nach dem Beginn des Ukrainekrieges geschrieben. Sein erschöpfter, hungernder und frierender Deserteur irrt in einer archaischen Berglandschaft über dem Mittelmeer umher, auf der Flucht vor barbarischen Verbrechen, die auch er begangen hat, auf der Flucht vor den Erinnerungen. Man hat den Eindruck, der Krieg sei ein lebendiges Wesen, ein antiker Kriegsgott. Die Bilder „gefolterter Gesichter mit blutigen Mündern und tiefen Augenringen“ verfolgen ihn wie Erinnyen. Aber auch die Natur ist feindselig, ist Krieg, der Berg ist „wie ein von Maschinengewehrfeuer durchsiebter Körper“, „es schneit Glas-und Eissplitter“, ein Blitz schlägt ein …
Wie um die Auflösung gesellschaftlicher Vereinbarungen zu Menschlichkeit und Humanität zu unterstreichen, löst Énard auch die Struktur der Sprache auf, gibt ihr streckenweise lyrischen Charakter, bis hin zu freien Rhythmen im inneren Monolog des anonymen Soldaten.
Der zweite Erzählstrang, die Geschichte des legendären Mathematikers Paul Heudeber wird von seiner Tochter Irina erzählt.
Heudeber, Kommunist und Antifaschist, aus dem Lager Gurs geflohen, aus Buchenwald befreit, war in der DDR zur Legende geworden, trotz aller Enttäuschungen prinzipientreu bis zum bitteren Ende. Seine Tochter sagt von ihm, dass er auf zwei Beinen stand, der Algebra und dem Kommunismus. Durch diese beiden Welten hatte er es geschafft, die Deportation zu überleben. Sein Hauptwerk „Die Vermutungen von Buchenwald sind ein „Mysterium“, das zugleich zum Gebiet der Dichtung wie zur „geheimen Musik der Mathematik“ gehöre. Die Mutter dagegen, die Liebe seines Lebens, hat im Westen eine politische Karriere in der Sozialdemokratie gemacht. In den Roman eingestreut, finden sich die wunderbarsten Briefe seiner Sehnsucht. „Deine Ferne bringt die Unendlichkeit näher.“ Das Ende aller Träume bewirkt bei ihm dann eine „traurige Gleichgültigkeit“, die Tochter zählt „zehn Jahre Traurigkeit“ bis zu seinem Tod durch Ertrinken im Mittelmeer 1995, der als Selbstmord gedeutet wird. „Das Lager ist in mir“, hatte er zuvor geschrieben. Mehr als 50 Jahre danach träumt er immer noch „finstere Träume voller Angst, Verfolgung, Hunger, Tod und Folter“.
Énard thematisiert die Herausforderung des Friedens
Auch seine politische Lebensbilanz ist bitter: Der Sozialismus wird nicht mehr aufgebaut werden, „man wird mich nicht mehr Genosse nennen – wir zahlen den Preis für unsere Unnachgiebigkeit, unsere Irrtümer und unsere zu große Unterwürfigkeit gegenüber den russischen Kriegstreibern“. Die Menschheit scheint noch nicht reif zu sein für Frieden, Teilhabe und Brüderlichkeit. Aber auch der Glaube an Wissenschaft und Fortschritt trägt nicht mehr, Mathematik war ihm einmal ein anderer Name für Hoffnung.
In eine Festveranstaltung zu Ehren Heudebers am 11. September auf dem Wannsee, in unmittelbarer Nähe des Hauses, in dem 1942 die „Endlösung“ beschlossen worden war, platzt die Nachricht von der Zerstörung der Twin Towers mit den apokalyptischen Bildern. Mit den Türmen war „ein Teil unseres Glaubens eingestürzt, unser Glaube an eine Art Frieden, eine Wiedergutmachung zerfiel; schon im Laufe des vorausgegangenen Jahrzehnts hatten die Jugoslawienkriege die Freude über den Mauerfall rot gefärbt.“ Seither hat der „Irak gebrannt“, wurde Syrien zerstört, ist der Krieg an die Grenzen Europas zurückgekehrt.
Dass Krieg und Gewaltherrschaft dem einzelnen mehr aufbürden, als er tragen kann, zeigt Énard eindrücklich. Aber auch in der Liebe wird der „Tanz des Verrats“ getanzt, werden Geheimnis und Lügen spät enthüllt. Eine beklemmende Lektüre, die uns zum Innehalten zwingt, denn seit der Krieg uns nahegekommen ist, lesen sich Kriegsgeschichten anders.
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