Der neue Film

Ein Film wie ein Schlag in die Magengrube

Im realitätsnahen Flüchtlingsdrama „Green Border“ zeichnet Regisseurin Agnieszka Holland eine humanitäre Katastrophe an der Grenze zwischen Belarus und Polen nach

Von 
Gebhard Hölzl
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Drama zwischen Stacheldraht: „Green Border“ zeigt die Brutalität an der Grenze zwischen Belarus und Polen. © picture alliance/dpa/Piffl Medien | Agata Kubis

„Green Border“ wurde bei seiner Weltpremiere auf den vergangenen Filmfestspielen von Venedig von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen und mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Derweil beschimpften führende Vertreter der regierenden PIS-Partei – im Zuge des polnischen Wahlkampfs – Regisseurin Agnieszka Holland ob ihres Werkes als Nestbeschmutzerin, verglichen sie mit Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels. Sie wurde so massiv bedroht, dass sie zeitweilig unter Personenschutz stand, derweil in den heimischen Kinos auf Anweisung des Justizministeriums vor jeder Vorstellung ein distanzierender Spot gezeigt werden sollte.

Alle Schikanen erwiesen sich als wenig wirksam, ihr realitätsnahes, politisch brisantes Drama avancierte in Polen zum zweiterfolgreichsten Film des Jahres. Der Produktion des 20. Kinoprojekts der für „Hitlerjunge Salomon“ (1992) Oscar-nominierten, inzwischen 75-jährigen Filmemacherin ging ein intensiver Rechercheprozess voraus. Holland und ihre Koautoren Gabriela Lazarkiewicz-Sieczko und Maciej Pisuk sprachen mit Beteiligten auf beiden Seiten der „grünen Grenze“ zwischen Belarus und Polen, mit Grenzschützern und Soldaten, Geflüchteten, Menschenrechtsaktivisten und Ärzten. Jede im Drehbuch beschriebene Situation fußt auf Tatsachen.

Auf dieser Grundlage entstand das aufwühlende Zeitdokument mit fiktionalen Charakteren und einer multiperspektivischen Erzählweise. Holland dazu: „Ich bin keine Dokumentarfilmerin, ich mache Spielfilme. Und die brauchen eine bestimmte Verallgemeinerung, Metaphern und Fiktion – diese Art von Fiktion, bei der sich eine Wirklichkeit zusammenfügt, statt nur beschrieben zu werden.“

Gewalt und Demütigungen

Angelockt von den Versprechungen des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko, haben Bashir (Jalal Atawil) und Amina (Dalia Naous) 2021 mit ihrer syrischen Familie wie viele andere Leidensgenossen einen Flug nach Minsk gebucht, um von dort illegal nach Polen einzureisen. Mit dem Ziel, zu ihren Verwandten in Schweden zu gelangen. Doch die Verheißung wird zur Falle. Zusammen mit Tausenden anderen Flüchtlingen stecken sie im sumpfigen Niemandsland fest, werden von der Exekutive beider Länder im hermetisch abgeriegelten Sperrgebiet hin und her gejagt. Abgeschnitten von jeder Hilfe, ohne Essen und Trinken.

Am Rand endloser Wälder kreuzen sich die (Lebens-)Wege unterschiedlicher Personen. Jan (Tomasz Wlosok) ist Grenzbeamter, stammt selbst aus der Gegend. Seine Frau ist schwanger, sie bauen ein Haus. Die Eskalation vor Ort stellt die Gewissheiten seines Daseins mehr und mehr in Frage. Die Psychotherapeutin Julia (Maja Ostaszewska) ist nach einem privaten Schicksalsschlag hierher gezogen, um sich in der Abgeschiedenheit neu einzurichten. Ohne es geplant zu haben, wird sie Teil einer Gruppe von Aktivisten, die trotz des staatlichen Verbots versuchen, die festsitzenden Geflüchteten zu versorgen. Sie treffen auf Bashir und Amina, die jeden Tag aufs Neue ums Überleben kämpfen.

Eine dokumentarisch anmutende Geschichte auf Leben und Tod. Eine vielschichtige Tragödie zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Zynismus und Menschlichkeit. Wegschauen unmöglich. Nur kurz darf man sich über ein wenig Farbe freuen, über grüne Landschaften und majestätische Bäume schweift die Kamera von Tomasz Naumiuk („Mr. Jones“), ehe die Bilder schwarz-weiß werden – und es bis zum Ende bleiben. Wohl ein Zeichen, dass man sich keine Hoffnungen auf eine bessere Zukunft machen darf.

Was Holland drastisch und gnadenlos belegt: Brutale Gewalt und Demütigungen sind an der Tagesordnung. Männer, Frauen und Kinder werden durch Stacheldraht gejagt, Leichen nachts über den Grenzzaun geworfen – soll sich doch die andere Seite um die Toten kümmern. Die sadistischen Ordnungshüter knöpfen den Geflüchteten mit falschen Versprechungen ihr weniges Geld ab, misshandeln sie, geben ihnen Wasser zu trinken, das mit Glassplittern versetzt ist. Ein wenig Menschlichkeit gibt es nur noch unter den Opfern, die einander so gut wie möglich helfen.

Ein wütender, mit aktivistischem Eifer in Szene gesetzter Aufschrei, der auf künstlerischen Anspruch radikal verzichtet. Vom gesamten Ensemble glaubwürdig gespielt. Holland zeigt Grausamkeit, um Empathie zu wecken, das Bewusstsein ihres Publikums für Verbrechen zu schärfen. Das gelingt. Viele Sequenzen treffen einen wie ein Schlag in den Magen. Und das ist gut so. Ein wahrer Horrorfilm, der auf jedwede Abstraktion verzichtet. Gnadenlose Authentizität ist angesagt. Ein Pflichtfilm eigentlich. Da mag man sich beim Zusehen noch so winden.

Freier Autor Gebhard Hölzl, Print-/TV-Journalist, Autor und Filmemacher.

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