Albumreview Rock

Zwei neue Lesarten von Bob Dylans Topalbum "Time Out Of Mind"

Mit drei Grammys und als Wendepunkt zu einem grandiosen Alterswerk des Literaturnobelpreisträgers hat sein 30. Album ab 1997 Geschichte geschrieben - im 17. Teil der "Bootleg"-Series wird es mehrfach neu Interpretiert

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Mit „Fragments“ macht Bob Dylan noch einmal klar, wie wandelbar der Literaturnobelpreisträger seine eigene Musik ansieht. © Bild David Gahr Sony Music

Karrierephasen des singenden Literaturnobelpreisträgers

  • Bob Dylan, geboren am 24. Mai 1941 als Robert Allen Zimmerman in Duluth (Minnesota), veröffentlichte 1962 sein Debüt als Folksänger.
  • Bis 1964 revolutionierte er die Rockmusik mit anspruchsvollen, poetisch-vieldeutigen Texten und wurde zu einem Idol der Bürgerrechtsbewegung.
  • 1965 wurde er als „Judas“ beschimpft, weil er sich zum Rockmusiker wandelte. Es folgten drei der besten Dylan-Alben.
  • Nach einem schweren Motorradunfall folgte 1966 der Rückzug aus der Öffentlichkeit. Anschließend erschienen 1975 die Meisterwerke „Blood On The Tracks“ und „The Basement Tapes“.
  • 1997 beendete „Time Out Of Mind“ eine lange Phase der kreativen Orientierungssuche. Diese Ära gipfelte 2006 in „Modern Times“.

„Wie ein Komet, der zweimal einschlägt“, singt der Mannheimer Senkrechtstarter Apache 207 mit Deutschrock-Ikone Udo Lindenberg. Und damit sind die Karrieren dieser beiden Stars ganz gut charakterisiert. Eine Legende wie Bob Dylan (81) spielt natürlich noch in einer ganz anderen Liga, auch, weil der Dylansche Komet in sechs Jahrzehnten vier bis fünfmal eingeschlagen ist. Mindestens. Der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2016 hat in den 60er und 70er Jahren mehrfach Rockgeschichte geschrieben. „His Bobness“ war auch ähnlich oft abgeschrieben, fand aber immer wieder Wege, sich neu zu erfinden - ob sein Publikum diese mitgehen wollte oder nicht (wie im Großteil der 80er Jahre).

© Verlag

Der „vierte Einschlag“ markierte 1997 noch einmal eine extrem markante Wiedergeburt des Songwriters Bob Dylan. Auf seinem 30. Studioalbum „Time Out Of Mind“ („TOOM“) hat er nach einigen Missgriffen endgültig den Ton gefunden hat, der seitdem sein grandioses Alterswerk prägt - ironischerweise kurz nach einer gravierenden Herzentzündung.

Original-Album entschlackt

Dem von Daniel Lanois (U2) produzierten Meisterwerk ist die mit Spannung erwartete 17. Folge von Dylans „The Bootleg Series“ komplett gewidmet (benannt nach meist illegalen Konzertmitschnitten; die wörtliche Übersetzung orientiert sich an der Methode, Alkohol am Bein (Leg) im Stiefel (Boot) zu schmuggeln). Die umfangreicheren Ausgaben rücken das mit drei Grammys gekrönte Album in ein neues Licht, wie es solchen Editionen nicht oft gelingt.

Wie gewohnt erscheint „Fragments. Time Out Of Mind Sessions“ in mehreren Varianten. Was davon die richtige Anschaffung ist, hängt wie immer vom Ausmaß des Fanatismus des individuellen Fans ab. Die einfachste Fassung enthält auf einer Doppel-CD mit 60-seitigem Booklet Michael H. Brauers (Coldplay, The Rolling Stones, Billy Joel, Paul McCartney, Ben Folds, Pet Shop Boys u.a.) geschmackvoll reduzierten Remix des Originalalbums.

Mit dessen Sound hat Dylan trotz des Grammys für das „Beste Album“ stets gefremdelt . Es klang zwar bei Weitem nicht so poppig wie „Oh Mercy“ (1989), Dylans erste, nicht konfliktfreie Zusammenarbeit mit Lanois. Aus heutiger Sicht auf die Dylan-Historie wird es klanglich seiner Neuerfindung als Songwriter nicht ganz gerecht. Schließlich hatte er sich Dylan inspiriert von einer Tour mit Jerry Garcia und The Grateful Dead einer Art kreativer Jungbrunnenkur an den Quellen der amerikanischen Popularmusik unterzogen. Eine Entwicklung, die man anhand der starken Traditional-Interpretationen auf „Good As I Been To You“ (1992) und anhand von „World Gone Wrong“ (1993) nachvollziehen kann.

Was noch fehlte waren neue potenzielle Song-Klassiker. Die lieferte „TOOM“ mit „Love Sick“ „Tryin’ To Get to Heaven“ und vor allem „Not Dark Yet“ - zumindest im Dylanologen-Kosmos. Die vielfach gecoverte, für Dylan ungewöhnliche Liebesballade „Make You Feel My Love“ gilt sogar als einer der wenigen Neueinträge ins „Great American Songbook“. Adele gelang damit ein Welthit.

Man könnte es frevelhaft finden, an so eine Platte massiv Hand anzulegen - über die Anpassung des Klangs für heute genutzte Technik hinaus. Aber Brauer wollte den Gesamtklang intimer machen und sich dem ursprünglichen Klang im Studio annähern. Etwa wie bei einigen Soloalben John Lennons, die von den Produktionseskapaden eines Phil Spector entschlackt wurden. Ganz so weit geht Brauer nicht, aber er schiebt alles Lanois-Typische (Hall, Weite) an den Rand des Klanggebildes. Und öffnet so den Blick auf die zeitlose Americana-Basis der Songs. Man muss sagen: Das wirkt besser, vor allem noch stimmiger als das Original.

Auf der zweiten CD finden sich unveröffentlichte Outtakes (darunter die einzige Coverversion „The Water Is Wide“, ein schottisches Volkslied, das Dylan zu „Highlands“ inspirierte) und Alternativversionen. Diese Ausgabe entspricht inhaltlich der Vinyl-Version mit vier LPs - für die allerdings sportliche 125 Euro (circa) zu Buche schlagen.

Dritte Lesart als Alternative

In diesem Fall empfiehlt sich auch für Nicht-Allessammler die CD-Deluxe-Edition mit fünf Silberlingen (ca. 120 Euro) im Hardcover-Book und einem ansehenswerten 80-Seiten-Buch. Eine zweite CD mit Alternativvarianten hört sich so perfekt durch, dass sie damals wohl genau so eingeschlagen wäre - dank dunklerer Stimmung, abgewandelter Song-Reihenfolge und etwas mehr Country-Appeal wirkt die dritte Lesart fast autark

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Das beste Argument für die Deluxe-Ausgabe: Eine CD mit Live-Aufnahmen von zehn „TOOM“-Songs („Can’t Wait“ gibt es doppelt, dazu „Mississippi“), zusammengestellt aus elf Konzerten der „Neverending Tour“ von 1998 bis 2001. Hier wird endlich die großartige, nervenstarke Tour-Band um Bassist Tony Garnier offiziell verewigt - obwohl nicht jede Aufnahme höchsten Soundansprüchen genügt. Dafür unterstreichen diese 75 Minuten eindrucksvoll Dylans Selbstverständnis als Ministrel, als fahrender Sänger, der sein Werk bei bis zu 100 Konzerten pro Jahr permanent neu interpretiert.

Nicht optimal, aber zur Gesamtwürdigung von „Time Out Of Mind“ unvermeidlich: Das Material der kompletten fünften CD ist schon 2008 auf „Tell Tale Signs. Rare and Unreleased 1989-2006: The Bootleg Series Vol. 8“ erschienen. Auf Vinyl gibt es die Deluxe-Version nur im Shop über bobdylan.com, auf stolzen zehn LPs. Mit Versand und Steuern wurden aus vertretbaren 230 Dollar Verkaufspreis stolze 420,13 Euro (plus Zoll). Das ist wohl nur etwas für Berufs-Dylanologen.

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