Der englische Meister der genresprengenden Musik schüttet mit seinem siebten Album „The Harmony Codex“ ein weiteres Füllhorn der kreativen Brillanz über den ihm Zuhörenden aus. Zwischen melodischem Gitarrenpop, virtuosen Rocksongs und flirrend-faszinierendem Electro hüpft Steven Wilson lustvoll hin und her. Wir unterhielten uns mit dem 55-Jährigen an einem frühherbstlich heißen Montag im Berliner Büro seiner Plattenfirma.
Mister Wilson, vor wenigen Wochen erst haben Sie in Schwetzingen die Tournee mit Ihrer Band Porcupine Tree beendet, jetzt kehren Sie schon wieder mit einem neuen Soloalbum zurück. Brauchen Sie eigentlich nie eine Pause?
Steven Wilson: Ich bin ein totaler Filmfan und würde schrecklich gerne viel öfter ins Kino gehen. Oder mir endlich mal die eine oder andere der zahlreichen Serien bei den Streaming-Anbietern anschauen, die ich seit Jahren sehen will und die immer wieder noch eine neue Staffel bekommen, bevor ich überhaupt mit Gucken habe anfangen können. Aber das ist wohl weiterhin Wunschdenken. Immerhin, gestern habe ich mir hier in Berlin mit meiner Frau einen ruhigen Abend im Hotel gemacht. Wir haben den Film „One Hour Photo“ mit Robin Williams gesehen, einen, wie ich finde, zu wenig beachteten Klassiker.
Ihr Album „The Harmony Codex“ ist mal wieder ein epischer Mammutritt durch die diverse Welt der von Ihnen geliebten und gelebten musikalischen Spielarten. Es ist nicht möglich, die Platte auf ein Genre festzunageln, doch was auffällig ist, sind die vielen wirklich schönen, mitunter gar verträumten Melodien. War es Absicht, so viel Harmonie reinzubringen?
Wilson: Nein, da hat wohl mein Unterbewusstsein das Regiment übernommen. Mehr als auf allen anderen meiner Soloalben habe ich mich einfach richtig schön treiben lassen. Ich hatte mir keine Agenda zurechtgelegt, mir keine Klang- oder Stilvorgaben gemacht wie zum Beispiel auf „The Future Bites“, wo ich mich auf elektronischen Pop konzentriert habe, oder „The Raven That Refuses To Sing“, die stark in Richtung des guten, alten Progressive Rock ging. Ich habe mittlerweile ein so großes musikalisches Vokabular an Ausdrucksmöglichkeiten, dass ich kühn behaupte: Alles, was ich mache, klingt nach mir.
Ist es nicht auch eine Agenda, keine Agenda zu haben?
Wilson: Ich weiß, ich weiß. Das ist die Ironie. Trotzdem gibt es keinen festen Platz, an dem ich dieses Album stationieren möchte. Alles war erlaubt, auch deshalb, weil ich mit „The Harmony Codex“ noch während der Zeit der erzwungenen Isolation begonnen und keine feste Band für die Aufnahmen vorgesehen hatte. So spielen jetzt die unterschiedlichsten Musiker auf den jeweiligen Stücken mit und tragen dazu bei, dass jeder Song quasi das Türchen zu einer anderen Welt öffnet. Wie bei vielen Kunstwerken gab es keinen richtigen Plan, und ich kann im Nachhinein auch gar nicht so gut erklären, warum sich die Platte so entfaltet hat. Ich denke, viele glückliche Fügungen waren involviert. Für mich gehört es ohnehin zum Wesen und zum Daseinskern eines experimentellen Musikers, das Unerwartete geschehen zu lassen und ihm mit erwartungsvoller Offenheit zu begegnen.
Noch mal nachgehakt: Woher kommt das Melodische?
Wilson: Ich war immer ein großer Popliebender. Ich wurde groß mit Pink Floyd und mit Abba, meine Eltern liebten „The Dark Side Of The Moon“ genauso innig wie „Super Trouper“, sie hörten an dem einen Abend die Bee Gees und am nächsten Led Zeppelin. Großartige Melodien sind für mich unwiderstehlich, und ich finde es fast ein bisschen bedauerlich, dass die meisten Leute in mir eher den kunstvoll drechselnden Musik-Nerd sehen als den Melodien-Mann.
Also ist es gar nicht so frappierend, dass Sie vor einiger Zeit eine Coverversion von Taylor Swifts „Last Great American Dynasty“ aufgenommen haben?
Wilson: Für mich nicht. Für manche Fans schon. Ich liebe diesen Song. Überhaupt ist Taylor, was ihre Musikalität angeht, einsame Spitze. Vielleicht ist es mir ja gelungen, Taylor einigen meiner Fans näherzubringen. Den Song halte ich jedenfalls für ziemlich perfekt, nicht zu Mainstream, aber zugleich clever und meisterhaft geschrieben.
Und dass ein paar Taylor-Swift-Fans nun Steven Wilson entdecken, ist das mit einkalkuliert?
Wilson: Das wäre natürlich schön, war aber nicht meine Intention. Ich habe ohnehin mit dem Gedanken, noch einmal selbst so ein richtiger Popstar zu werden, abgeschlossen. Jahrelang war das mein Ehrgeiz, und ein Teil von mir ist immer noch frustriert, dass meine Musik kein noch größeres Publikum findet. Aber der weit größere Teil ist dankbar. Ich bekomme immer noch sehr starke Glücksgefühle vom Musikmachen, ich kann mich gut von meiner Arbeit ernähren, mein Leben ist abwechslungsreich und schön.
Musik und Albumcover sind eng an die berühmten unmöglichen Figuren von M. C. Escher angelehnt. Woher kommt Ihre Begeisterung mit diesen auf den ersten Blick natürlichen, bei näherer Betrachtung jedoch völlig widersprüchlichen Grafiken?
Wilson: Eschers Arbeiten wie die unendliche Treppe sind wunderbare Werkzeuge, um die Musik davon abzuleiten. So ist der Titelsong ein langes Ambient-Electronic-Stück mit konstant anschwellenden Sequenzen, und viele Worte sowie auch das Artwork stehen in Bezug zu Escher. Mich fasziniert seine Kunst, weil sie so dystopisch und alptraumhaft surreal auf mich wirkt.
Und älter werden wir auch noch. Ebenfalls ein Thema, dem Sie sich auf „The Harmony Codex“ widmen.
Wilson: Logisch, ich bin jetzt fast 56 Jahre alt. Ich bin definitiv in der zweiten Hälfte meines Lebens und denke mehr und mehr über das Vergehen der Zeit nach. Aber ich habe auch vor einigen Jahren geheiratet und habe zwei relativ junge Stieftöchter. Das Leben hält einfach immer wieder Überraschendes bereit (lacht).
Mister Wilson, sind Sie eigentlich ein glücklicher Mensch?
Wilson: Okay, also das Leben ist wie das Klettern auf einen Gipfel, dessen Spitze du trotz aller Bemühungen nie ganz erreichst. Aber obwohl das Leben vor allem aus Scheitern besteht, würde ich sagen: Ja, ich bin glücklich.
Wer oder was ist für Ihr Glück verantwortlich?
Wilson: Meine Hunde. Meine Frau. Meine beiden Stieftöchter, die jetzt zehn und elf Jahre alt sind und mich, so viel Zeit war dann glücklicherweise doch, neulich mit in den „Barbie“-Film geschleppt haben, den ich ausgesprochen smart fand. Und neuerdings auch die Pilates-Stunden gemeinsam mit meiner Frau. Ich bin jetzt Mitglied in einem Fitnessstudio. Dabei quäle ich mich eigentlich nicht gern beim Sport. Aber ich will mindestens so alt werden, wie meine putzmuntere Mutter - die jetzt 92 Jahre alt ist.
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/leben/gesehen-und-gehoert/alben-rezensionen-plattenkritiken_artikel,-neue-alben-steven-wilson-geht-vom-aufnahmestudio-ins-pilates-_arid,2130446.html