Eine Bücherwand, die bis zur Decke reicht. Zwei schwere Ledersessel, ein Tischchen mit mehreren Drehscheiben-Telefonen – kurz: ein bildungsbürgerliches Ambiente, verkabelt und verdrahtet mit der Außenwelt. Bei allem Weltwissen, das hier versammelt ist, kann man sich schon mal verheddern.
Mutter Veta Simmons und ihre Tochter, sie ist im heiratsfähigen Alter, organisieren eilfertig eine Gesellschaft, doch außer der exaltierten Mrs. Ethel Chauvenet kommen statt der Gäste nur Absagen. Der Grund liegt, so meinen die beiden Ladies, in der Verwandtschaft: Es ist Elwood P. Dowd.
Nicht er persönlich, sondern sein Spleen, der titelgebende „Freund Harvey“, ein gut zwei Meter großer, weißer Hase, den Elwood als ständigen Begleiter halluziniert. Für alle anderen ist das Tier nicht sichtbar. Elwoods Macke vermasselt die Chancen sozialer Anerkennung, auch einen heiratswilligen Mann für Myrtle Mae zu finden, scheint aussichtslos: „Ach Mutter, so viele Menschen werden täglich von Autos angefahren. Warum passiert Onkel Elwood nicht mal sowas?“, sinniert die junge Frau.
Spannend wie ein Thriller
Spannend wie ein Psychothriller beginnt „Mein Freund Harvey“. Durch eine Geheimtür in der Bücherwand betritt der ominöse Verwandte die Szene. Elegant, charmant und stets in bester Laune lässt er seinem Phantom höflich den Vortritt. Elwood ist die Ruhe selbst. Quasi das Gegenstück der beiden Damen, die an ihm zu verzweifeln scheinen, letztlich aber die Option, ihn ins Sanatorium abzuschieben, dem Tötungsansinnen vorziehen.
Wer ist hier normal, wer ist durchgedreht? Diese Frage durchzieht das Stück der amerikanischen Autorin Mary Chase leitmotivisch und führt durch eine Reihe von Missverständnissen zu grotesken Verkennungen und Verkettungen. Sinnigerweise inszeniert die Regisseurin Rosmarie Vogtenhuber die Gesellschaftssatire auf einer Drehbühne. Die Kehrseite der großbürgerlichen Bibliothek ist die klinisch weiße Welt der Psychiatrie. Im schmalen Gang dazwischen hat der Bühnenbildner (und Ausstatter) Martin Fischer ein Gewächshaus eingerichtet, eine Replik auf einen der köstlich surrealen Sätze, die nachklingen: „Wollen Sie nicht ein bisschen reinkommen? Da dürfen Sie die Blumen von der Tapete pflücken“.
Macken und Marotten
Die Inszenierung erlaubt den Akteuren lustvoll die Macken und Marotten ihrer Charaktere auszureizen: Zlatko Maltar stellt in der Rolle des Elwood nicht nur seinen falschen Hasen als Leerstelle überzeugend dar, vom Zuschnitt eines James Stewart steht er neben sich, betrachtet die Welt mit einer gewissen Nonchalance und Unverbindlichkeit: „Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe mich jahrelang mit der Wirklichkeit herumgeschlagen und bin froh, sagen zu können, dass ich sie endlich überwunden habe“.
Wunderbar Sabine Unger als Veta, der fürsorglichen Managerin familiärer Peinlichkeiten und agilen Organisatorin, die, typisch Frau als Opfer, zeitweilig als Psychopathin im Sanatorium malträtiert wird und schließlich zur Einsicht gelangt, Elwood solle die Medizin nehmen, auch wenn „die Fotografie uns nur die Wirklichkeit zeigt, der Maler uns jedoch nicht nur die Wirklichkeit zeigt, er malt seine Fantasie mit hinein“. In Myrtle Mae, verkörpert durch Regina Speiseder, manifestiert sich Torschlusspanik, es ist höchste Zeit, den passenden Mann zu finden, der gesellschaftliche Druck sucht ein Ventil.
Köstlich die Hierarchie der Halbgötter in Weiß: Oliver Firit als Chefarzt, ein Wichtigtuer, dessen professionelle Deformationen – von Überheblichkeit und Hypochondrie bis zur Kleptomanie – ein ganzes pathologisches Spektrum aufbieten. Nicht minder durchgeknallt Pablo G. Pinilla als überkorrekter, überangepasster, karrieregeiler Dr. Sanderson, der als potenzieller Nachfolger vor allem den Chefsessel im Auge hat. Letzter im Bunde des medizinischen Trios ist der Pfleger, Arlen Konietz, der Mann fürs Grobe. Oberschwester Kelly alias Lisa Schwarzer assistiert dekorativ als dümmliche Blondine, das unterschwellige Objekt männlicher Begierden.
Starkes Stück
Räsonabel scheint einzig der Taxi-Chauffeur (Stefan Eichberg) zu sein. Als Elwood einwilligt, die verordnete Medizin zu nehmen, kommentiert er trocken: „Nachher wird er ein ganz normaler Mensch sein, Sie wissen ja, was für‘n Gesindel das ist, knausrig statt spendabel“.
„Mein Freund Harvey“ wurde 1944 in New York uraufgeführt. Das erfolgreiche Schauspiel lief mehr als fünf Jahre am Broadway, erreichte 1775 Aufführungen und wurde 1945 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Nicht nur die Stars, die in Filmen die Hauptrolle übernommen haben (James Stewart, Heinz Rühmann, Harald Juhnke) auch die Literatur- und Welthaltigkeit – von Manns „Zauberberg“ bis zur Frage von Adorno: „Gibt es ein richtiges Leben im falschen?“ – machen die Stärke des Stückes wie der Heilbronner Inszenierung aus.
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