Schwetzingen. Er ist ein problemlos funktionierender Beamter, dieser Jakow Petrowitsch Goljadkin. In der 14-teiligen zivilen Rangordnung der Staatsdiener im alten Kaiserreich hat er sich damit immerhin bereits auf Stufe neun emporgearbeitet. Doch dann beginnt sein Unglück: Er begegnet einem rätselhaften Doppelgänger, der womöglich nur ein Hirngespinst ist, aber trotzdem immer stärker auf sein Leben Einfluss nimmt. Auf das berufliche und das private gleichermaßen. Die Geschichte könnte von Franz Kafka sein, aber sie ist von Fjodor Dostojewski - und schon 1846 aufgeschrieben worden. Zählt also zum Frühwerk des berühmten russischen Erzählers. Von Katja Petrowskaja wurde sie zu einem Libretto umgearbeitet, Lucia Ronchetti hat die zeitgenössische Musik dazu geschrieben. Vor der Schwetzinger Premiere bei den SWR-Festspielen haben wir vor Ort der renommierten Komponistin aus Italien ein paar Fragen stellen können.
Frau Ronchetti, wann haben Sie angefangen, sich mit dieser neuen Oper zu beschäftigen?
Lucia Ronchetti: Das ist eine ganze Weile her, denn die Premiere sollte schon vor einem Jahr sein. Wegen der Corona-Pandemie kam es dann aber zu einer Verspätung. Meine Konzeption liegt wohl bereits fünf Jahre lang zurück: mit Dostojewskis Buch als Ausgangspunkt und der Idee, Katja Petrowskaja für das Libretto zu gewinnen. Heike Hoffmann, Künstlerische Leiterin der SWR-Festspiele, hat uns dann beauftragt, diese Oper auszuarbeiten. Es war ein weiter Weg.
Das muss man wissen, denn in Ihrem Stück tauchen ja viele ukrainisch-russische Aspekte auf.
Ronchetti: Aber durchweg positive. Dostojewski war ein großer Schriftsteller, Petrowskaja ist eine Ukrainerin in Deutschland, sie hat russische Literatur im Original studiert und scheint mir deswegen die adäquate Perspektive auf das Werk von Dostojewski zu besitzen.
Putins Ukraine-Krieg gab es zu Anfang Ihrer Arbeit an dem Stück noch nicht…
Ronchetti: Nein, das hätte nie jemand gedacht. Obwohl es schon die Annexion der Krim gegeben hatte auf die nicht gerade wild entschlossen reagiert wurde. Doch unser Interview sollte nicht davon handeln.
Ihre Oper ist ja auch nach einer Vorlage des frühen Dostojewski komponiert - der eher „links“ war und sogar ins Straflager geschickt wurde.
Ronchetti: Fast wäre er umgekommen. In der frühen Phase war er experimentell, auch was das Literarische betrifft. Ich habe überhaupt sehr viel von ihm gelesen, immer schon. Doch stets auf Italienisch, und die Übersetzungen fallen in der Stilistik oft sehr unterschiedlich aus. Ich möchte deshalb nicht behaupten, dass ich diesen Schriftsteller wirklich in jeder Hinsicht kenne. Für seine Idee des Schattens oder Doppelgängers hat er aber fraglos eine neuartige Sprache generiert.
Obwohl die Schatten oder Doppelgänger auch schon bei Romantikern in Deutschland auftauchen.
Ronchetti: Etwa bei Chamisso oder Hoffmann. Doch bei Dostojewski gibt es bei der Hauptfigur Goljadkin schon diesen Gedankenfluss, in freier, fragmentierter Sprache. Das ist ziemlich neu und zeitgenössisch. Peter Schöne, der ein Bariton ist und in Schwetzingen Goljadkin darstellt, kennt deswegen alle Möglichkeiten zwischen dem Gesungenen und „bloß“ Gesprochenen, in ungezählten feinen Abstufungen. Manchmal hört man ihn nur atmen.
Die Komponistin Lucia Ronchetti
- Lucia Ronchetti, Jahrgang 1963, stammt aus Rom und hat in ihrer Heimatstadt denn auch studiert: Klavierspiel und Komposition an der Accademia di Santa Cecilia, an der La Sapienza-Universität Philosophie. Bis heute hinterlässt das Spuren, etwa im Orchesterstück „Schiffbruch mit Zuschauer“ nach einem Buchtitel Hans Blumenbergs, des großen deutschen Philosophen der Metapher.
- Die Musik Ronchettis widmet sich bevorzugt den theaternahen Formen, mit und ohne Bühneninszenierung. Auch in der von ihr geprägten Gattung des „Aktionskonzerts“. Oft pflegt die Komponistin eine Auseinandersetzung mit vergangenen Epochen und hat dafür eine hochkomplexe Überschreibungs- und Zitierkunst konzipiert.
- Ihre Musiktheaterwerke kamen oft in Deutschland auf die Bühne: „Esame di mezzanotte“ etwa lief am Nationaltheater Mannheim - in der Zeitschrift „Opernwelt“ wurden das Stück und seine Inszenierung preisgekrönt.
- Das aktuelle Werk „Der Doppelgänger“ nach einem Libretto von Katja Petrowskaja (die einst den Bachmann-Preis gewonnen hat) wird zweimal bei den SWR-Festspielen aufgeführt: am 26. April um 19 Uhr sowie am 28. April um 18 Uhr, jeweils im Rokokotheater Schwetzingen. In beiden Fällen gibt es eine Stunde vorher eine Einführung. Gesungen wird auf Deutsch.
Seinen Doppelgänger haben Sie mit einem Bass besetzt. Was sagt uns das?
Ronchetti: Damals, in der Zeit der Pandemie, hatte ich sehr viel Zeit zum Komponieren, war zuhause, musste nicht herumreisen. So nahm der Doppelgänger immer mehr Gestalt an. Wurde realistisch, „menschlich“. Wie bei Dostojewski. Deshalb stellte ich mir eine Stimme vor, die viel Kontrolle ausübt. Wie die Pauke im Orchester.
Deutet das die Dominanz des Doppelgängers an?
Ronchetti: Ja, er ist am Ende der Erfolgreiche: im Leben und auch im Beruf, auf der Behörde. Eine „Künstliche Intelligenz“ wird hier lebendig und real.
Ein paar formale Fragen zu der neuen Oper hätte ich natürlich auch noch, etwa, was die Spieldauer betrifft…
Ronchetti: Sie liegt ungefähr bei eineinviertel Stunden, es ist also eine kurze Oper. Eine Pause gibt es deshalb höchstwahrscheinlich nicht. Was das Orchester angeht, so wird dieses an die 50 Instrumente aufweisen: Flöte, Oboe, Englischhorn, drei Schlagwerke, Celesta, Harfe und ein eher reduziertes Streichorchester sind darunter.
Welche Rolle ist der Elektronik zugedacht?
Ronchetti: Diesbezüglich geht es einzig um die Amplifikation der Stimmen. Dafür gibt es die Zusammenarbeit mit dem Experimentalstudio des SWR - mit der ich superglücklich bin, weil Maurice Oesers Klangregie so raffiniert ist. Und auch sicherstellt, dass leise Stimmeffekte, manchmal nur aus Atemluft erschaffen, überall im Saal zu hören sind. Es ist ja eine Oper über Einsamkeit. Bisweilen aber geht die Hauptfigur auch auf die Straße und unter die Leute. Um dies abzubilden, habe ich russische Volksmusik aus dieser Zeit zitiert und transkribiert.
Ohne Verfremdungen?
Ronchetti: Ja. Daneben gibt es allerdings auch nicht so evidente Anknüpfungen an die Operntradition, an Komponisten, die mir immer wichtig waren, wie Sciarrino, Berio, Nono, Malipiero und Busoni. Und es fängt bei Gesualdo an.
Inzwischen scheint es aber fast so, als ob Deutschland Ihre wesentliche Wirkungsstätte sei. Zumindest, wenn man auf die Uraufführungsorte schaut.
Ronchetti: Deutschland ist mein Paradies. Das Publikum in jedem Opernhaus ist anders, und die Abonnenten hierzulande sind sehr offen und sensibel - weil sie so viel großes Repertoire gehört haben, etwa Zemlinsky, Wagner, Berg und Strauss. Es ist mir ein Vergnügen, einen Dialog mit diesem Publikum zu führen. Dafür bin ich dankbar.
Wie steht es im heutigen Italien um die zeitgenössische Musik?
Ronchetti: Problematisch. Denn vom Komponieren leben können wir hier nicht, und man behandelt uns wie Parasiten. Nach der landläufigen Meinung sind wir Leute, die nicht arbeiten (die Komponistin lacht). In Deutschland habe ich auch manchmal schlechte Kritiken. Aber ich zähle trotzdem zur Gesellschaft, habe meine Rechte. In Italien ist das nicht so. Früher war es einmal anders, als Sciarrino Leiter des Teatro Comunale in Bologna war und Stockhausen Premieren an der Scala hatte. Aber unter Berlusconi war das dann vorüber. In Italien müssen gute Opernkomponisten heutzutage tot sein.
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