„Warte nur! Balde ruhest auch du . . .“ Wer dem Tod von der Schippe gesprungen ist, für den ist er nicht mehr der bedrohliche Schnitter und Sensenmann, auch nicht der lustige Anführer eines endlosen Totentanzes, dem keiner entgeht. Peter Riek hat vor zehn Jahren gegen den Krebs kämpfend sein Leben zurückerobert.
Für ihn ist der Tod zwar immer noch überlebensgroß, aber etwas ermattet. Als gönne sich Bruder Hein eine Ruhepause. Zusammengefaltet hockt er da, wie sein ureigenes Memento Mori – an der Wand der Museen im Deutschhof.
Zum 60. Geburtstag widmen die Städtischen Museen dem Heilbronner Künstler Peter Riek eine Retrospektive, die, entlang der Lebenslinie, in sechs Werkgruppen insgesamt 50 Arbeiten und circa 40 Arbeitsmodelle der Jahr 1998 bis 2019 zeigt. Hieße der Titel nicht „Peter Riek. Origin“ – ein Verweis auf die Herkunft, den Ursprung, das Ursprüngliche – könnte er mit Bezug auf Goethe auch „Wanderers Nachtlied“ heißen, denn Riek, der zu Fuß zu den Quellen der Kunst wandert, zeichnet direkt vor Ort, meist weiß auf schwarz, Kreide auf Asphalt.
Seine Exkurse führen ihn zum Isenheimer Altar, ein kunsthistorisch motivierter Lustmarsch, gute 200 Kilometer nach Colmar. „Kunst kann man nicht en passant mitnehmen, man muss sich mühen, wie damals Albrecht Dürer, als er zum Isenheimer Altar pilgerte“, so Riek. Er überquert die Alpen, wandert nach Mantua, um zu Andrea Mantegna gelangen, wo er in der Camera degli Sposi dem ersten illusionistischen Deckengemälde begegnet: Es täuscht den Durchblick in einen freien Raum vor.
In der Tasche hält er immer ein Stück Kreide parat, mit dem er komplexe Eindrücke in einfache Zeichnungen übersetzt, einfach auf die Straße, einen Stein oder Fels. „Kein Tag ohne Linie“ – was Paul Klee postulierte, gilt für Peter Riek in mehrfacher Hinsicht: Umrisslinien auf geteerten Straßen, die im Direktdruck aufgenommen oder fotografisch festgehalten werden, bevor der Kreideauftrag vom Wind verweht wird. So vergänglich wie das Leben. Notenlinien, die sich Serpentinen gleich über ein Blatt winden. Höhenlinien, die der Künstler per pedes auf den Spuren des früh vollendeten Poeten Wilhelm Waiblinger (1804 bis 1830; auch ein Heilbronner) nach Rom durchschreitet.
Die Linie, an der Schnittstelle von Schreiben und Zeichnen, gibt ihm Rückhalt, wird zu seinem Markenzeichen: „Zeichnen ist das älteste Medium. Es ist stiller, bescheidener, nicht so auftrumpfend wie die Malerei, das Material ist nicht so teuer und ich kann mehr experimentieren“, erklärt Riek beim Rundgang durch die Werkschau. „Peter Riek ist ein Zeichner, der Räume baut“, bestätigt Museumsdirektor Marc Gundel.
Spröde manifestieren sich Korrespondenzen von Innen- und Außenräumen. Die Zeichnungen erklären die Welt nicht durch Veranschaulichen, sondern durch Übersetzen in eine prägnante, teils archaische, teils organische Formensprache. Dabei scheinen körperliche Erfahrungen wie Schrittlänge, Rhythmen des Gehens und Empathie dieses mönchischen Wanderers mittelbar ins Werk einzugehen. Ist das Ziel ein Punkt, dann ist der Weg die Linie. Literaturgeschichtlich motivierte Exkurse führen ihn ins Umfeld von Hölderlin.
Die Folge „Lieder der Verirrung/Wilhelm wandert“ ist eine Hommage an den Heilbronner Dichter, Freund und ersten Hölderlin-Biografen Wilhelm Waiblinger. Auch die Installation „Toteis/Monument für Gustav Schwab“, dominiert von einem Pferdeskelett, das auf Stahlplatten – bedruckt mit Zeichnungen von Eiskristallen – steht, kombiniert unterschiedliche Gestaltungsmittel und öffnen ein weites assoziatives Feld rund um Gustav Schwab, der nicht nur erster Herausgeber von Hölderlin war, sondern, wie dieser, antike Texte übersetzt hat.
Zitate zu erotischen Eskapaden von Göttervater Zeus verweisen darauf.
„Ich habe gedacht, es wäre menschengemäß, etwas völlig Zweckfreies zu tun, etwas, das nicht auf Profit und Konsum aus ist“, begründet Riek seine Tätigkeit. Humanistisch geprägt thematisiert er Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und das Unbehaust-Sein des Menschen. Die Sensorik des (Mensch-)Seins verwandelt sich sinnbildhaft. Beispielsweise wird Pflanzliches zur Notenschrift umgedeutet („floral song“) oder ein notiertes musikalisches Motiv flattert wie vom Winde verweht himmelwärts („divine“), so in der zwölfteiligen Bildfolge für das Württembergische Kammerorchester.
„Es kann befriedigend sein, nicht zu wissen, warum man etwas schön findet. Vielleicht ist das eine Art Freiheitsempfindung. Schöneres kann Schönes nicht bewirken.“, äußerte sich Martin Walser 1985 beim Betrachten der Bilder des damals 25-jährigen Riek. Das Geheimnis der Schönheit hat nichts an Aktualität verloren.
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