Berlin. Die neue Platte besteht nur aus zwei – noch in Abschnitte unterteilte – Stücken, auf denen der 57-Jährige wirklich sämtliche Register seines Könnens zieht. Von kontemplativer Elektronik bis hin zu lautem Rock ist alles dabei, „The Overview“ bietet daher nicht nur thematisch einen Blick vom Weltall auf die Erde, sondern auch auf die Ideenfülle des Musikers. Wir haben Steven Wilson im Berliner Büro seiner Plattenfirma getroffen.
Steven, „The Overview“ ist selbst für Ihre stets experimentierfreudige Herangehensweise ein ungewohnt abenteuerliches Werk. De facto besteht „The Overview“ aus nur zwei Songs. Was steckt hinter dieser Idee?
Steve Wilson: Tatsächlich hatte ich gleich mehrere Gründe. Zuallererst ist da dieser immerwährende Wunsch, ja der Drang, in mir, mich selbst herauszufordern und neue Dinge auszuprobieren. Dinge, die ich als Musiker so noch nicht gemacht habe. Wenn ich mit einem neuen Projekt beginne, ist der Ausgangspunkt immer die Frage: „Was interessiert mich gerade, was kitzelt meine Kreativität?“ Und etwas, das ich seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr gemacht habe, sind solche superlangen Stücke. Auf meinen letzten Alben ging es stets mehr um die individuellen Songs, manche waren länger, andere kürzer, aber schlussendlich standen sie alle für sich. Wenn du so willst, waren das alles Kurzgeschichten, während „The Overview“ nun ein Roman geworden ist.
Und was ist der andere Aufhänger?
Wilson: Die Idee des sogenannten „Overwiew-Effekts“ als solche.
Liveauftritte
Steve Wilson ist mit seinem Album „The Overview“ live zu erleben:
6. Mai: Düsseldorf , Mitsubishi Halle
30. Mai: Stuttgart , Porsche Arena
31. Mai: München , Zenith
2. Juni: Berlin , Friedrichspalast
3. Juni: Hamburg , Sporthalle
10. Juni: Zürich , The Hall
Als „Overview-Effekt“ bezeichnet man die Wirkung, die der Blick aus dem All auf die Erde in einem Menschen auslöst.
Wilson: Richtig, und dieser Effekt variiert extrem. Die meisten Leute, die jemals im All waren, empfinden es als überwältigend und wunderschön, von oben auf die Erde zu schauen. Sie fühlen Dankbarkeit, Wertschätzung und das Glück, dort unten leben zu dürfen. Sie erkennen, wie unbedeutend sie im Gefüge des großen Ganzen sind. Im Idealfall streben sie fortan danach, die Erde zu beschützen, ihr kein zusätzliches Leid anzutun. Dann gibt es jedoch auch Menschen, die sehr negative Erfahrungen machen. William Shatner zum Beispiel, der Captain Kirk aus „Raumschiff Enterprise“, war im All und reagierte regelrecht erschüttert. Er meinte, alles, was er sah, seien Tod und Nichtigkeit gewesen.
Gibt es Unterschiede beim Schreiben zwischen einem langen oder mehreren kurzen Stücken?
Wilson: Ja, die gibt es. Bei einem längeren Stück kannst du einzelne Themen wieder und wieder aufsuchen. Im ersten Stück gibt es nach ungefähr fünf Minuten eine Sequenz aus neunzehn Noten. Diese Sequenz bildet das Fundament für alles, das folgt. Ich kehre wiederholt zu diesen Noten zurück, was eine typische Herangehensweise in der klassischen Musik ist. Wagner hätte meine neunzehn Noten als Leitmotiv bezeichnet. Dieses Leitmotiv erkunde ich im Verlauf von „Objects Outlive Us“ aus verschiedenen Blickrichtungen, mit unterschiedlichen Tempi, Rhythmen und Instrumenten. Mike Oldfield ist auf „Tubular Bells“ auch auf diese Weise vorgegangen.
„The Overview“ hört man am besten mit Kopfhörern oder auf einer richtig guten Stereoanlage. Wollen Sie den Spotifys und TikToks dieser Welt mit Ihrem Werk die lange Nase zeigen?
Wilson (lacht): Streamingrekorde werde ich damit wohl kaum brechen. Ich mag es, dass zwei zwanzigminütige Musikstücke so etwas subversives, fast unerhörtes haben. So nach dem Motto „Wie kann er es wagen?“ Ich genieße diese Diskussion ein bisschen, ganz ehrlich. Wir haben diese Vorstellung von alternativer Musik, Bands wie Nirvana oder The Cure gelten als Alternative, aber warum nur? Nichts und niemand könnte mehr Mainstream sein als Nirvana, eine der erfolgreichsten Rockbands der Musikgeschichte.
Wie intensiv haben Sie sich vor der Arbeit an „The Overview“ denn überhaupt mit dem Weltall auseinandergesetzt?
Wilson: Nicht so viel, wie ich gern hätte. Als Kind habe ich die Namen der ganzen Sterne und Planeten auswendig gelernt. Science Fiction liebte ich auch schon immer. Ich vergöttere Filme wie Christopher Nolans „Interstellar“, Stanley Kubricks „2001“ oder Ridley Scotts „Blade Runner“. Dieses Projekt ist für mich eine großartige Möglichkeit, wieder stärker mit meiner alten Kinderleidenschaft in Verbindung zu treten. Im Alltag bleibt dafür ja sonst nicht so viel Zeit. Auch ich bin hier unten auf der Erde so in mein Leben, meine Familie, meine Arbeit eingespannt, dass ich oft nicht dazu komme, einfach mal Luft zu holen, nach oben zu schauen, Abstand zu gewinnen.
Würde Sie eine tatsächliche Reise ins Weltall interessieren?
Wilson: Ich habe schreckliche Angst vorm Fliegen. Schon für die Stunde gestern nach Berlin musste ich was zur Beruhigung nehmen. Insofern wäre die Reise in einer Rakete oder einem Raumschiff zwar das Allergrößte und Allerschönste für mich, auf der anderen Seite würde es ein absoluter Alptraum sein. Ich sage mal so: Wenn sich die Chance ergäbe, käme ich mir blöd vor, wenn ich mich davor drücken würde.
Sind Sie denn zuversichtlich, dass der Planet Erde noch eine Weile durchhalten wird. Oder bekommen wir ihn vielleicht noch zu Lebzeiten kaputt?
Wilson: Nun ja, es fällt mir oft schwer, optimistisch zu sein. Ein Stück Hoffnung gibt mir die junge Generation, in der zum Beispiel Veganismus und Vegetarismus stark zugenommen hat. Andererseits nimmt die Bevölkerung noch immer rasant schnell zu. Als ich geboren wurde, waren wir drei Milliarden Menschen, jetzt sind wir acht Milliarden. Was so oder so außer Frage steht: Die Erde wird überleben. Ob mit oder ohne Menschen.
Möchten Sie uns noch verraten, was uns in Ihren kommenden Live-Shows erwartet?
Wilson: Ein Erlebnis (lacht). Ich habe mittlerweile drei Alben gemacht, die ich noch nicht auf der Bühne aufgeführt habe. Somit wird es auch viel Musik von „The Harmony Codex“ und auch einiges aus „The Future Bites“ zu hören geben. Außerdem tauche ich einige Male tief in meine musikalische Vergangenheit ein, um Musik zu finden, die „The Overview“, das natürlich im Zentrum der Show stehen wird, gut ergänzt. Die Konzerte werden also auf jeden Fall richtig lang. Und, das verspreche ich: Selbst Leute, die regelmäßig Rockkonzerte anschauen, werden beeindruckt sein.
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