Literatur

Solidarität in der Dystopie

Yael Inokai nimmt Brentano-Preis entgegen

Von 
Hans-Günter Fischer
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Yael Inokai und der Kulturbürgermeister Wolfgang Erichson. © Konrad Gös

Mittlerweile hat er auch schon 30 Jahre auf dem Buckel: Den in Heidelberg verliehenen Clemens-Brentano-Preis gibt es seit 1993. Bei der diesjährigen Preisverleihung im Palais Prinz Carl werden deswegen kurze Videobotschaften gezeigt: von den Gewinnerinnen und Gewinnern der Vergangenheit. Und auch von Jury-Mitgliedern, die damals noch Studenten waren. Sogar sie sind auf den aktuellen Statements ganz schön alt geworden. Doch der Grundsatz, neben Profis germanistische „Azubis“ in das Jury-Votum einzubinden, ist bis heute die Besonderheit der Heidelberger Auszeichnung geblieben.

Diesmal ist die Wahl kein allzu großes Risiko gewesen: Den Brentano-Preis, 10 000 Euro „schwer“, nimmt Yael Inokai von Bürgermeister Wolfgang Erichson entgegen, für „Ein simpler Eingriff“. Der Roman ist auch schon mit dem Anna-Seghers-Preis bedacht worden – und insgesamt der dritte der aus Basel stammenden Autorin (die schon lange in Berlin lebt). Ihr Debütroman erschien bereits 2012. Sie ist also recht etabliert und kollidiert damit fast mit den dem Brentano-Preis zugrunde liegenden Statuten.

Grenzenlose Empathie

Aber dafür meidet Inokai die Fehler mancher Anfänger. Der Kritiker Paul Jandl, Wiener von Geburt, aber inzwischen gleichfalls in Berlin zuhause, führt vor allem einen an: dass heutzutage allzu viele Debütantinnen und Debütanten von sich selbst erzählten und dem „autofiktionalen Schreiben“ huldigten. Nicht jeder freilich, der in Pankow oder wo auch immer in den harten Keks der Jugend habe beißen müssen, sei ein neuer Marcel Proust. Wie wahr. Doch Jandl ist in Heidelberg ja für die Lobrede auf Yael Inokai verpflichtet worden. Und an ihrem Buch hebt er hervor, dass es zwar scheinbar auch den Alltag einer Klinik zeige, in der Eingriffe am offenen Gehirn von psychisch Kranken vorgenommen würden. Aber dabei in parabelhafte und gesellschaftsmetaphorische Bezirke vorstoße.

Das zeigt sich bereits daran, dass alle Patienten – oder Delinquenten – Frauen sind. Als Opfer einer fragwürdigen Chirurgie, die aus den Kranken wieder nützliche Gesellschaftselemente machen soll. „Das Hirn ist eine Landkarte“, heißt es an einer Stelle. Also letztlich leicht zu lesen. Die betroffenen Synapsen mit den Fehlfunktionen müsse man nur abklemmen, findet der Chefchirurg. Aber womöglich ist gerade er mit seiner eisenharten Rationalität der eigentliche „Irre“. Ihm zur Seite steht die Hauptfigur in Inokais Roman: die Krankenschwester Meret. Anfangs treu ergeben, assistiert sie ihm, hält den Patientinnen das Händchen, redet ihnen zu. Sie ist zu grenzenloser Empathie befähigt: „Mitgefühl: Das kann ich gut.“

Doch irgendwann begreift sie auch, dass diese Form der Chirurgie nicht wirklich weiterhilft. „Das Buch erzählt von keiner guten Welt“, sagt Inokai in Heidelberg. Es droht sogar, als Dystopie zu enden. Doch es gibt auch eine Hoffnung: Solidarität unter den weiblichen Romanfiguren – Krankenschwestern und Patientinnen verlassen diese fragwürdige Klinik. Ohne eine Prise Feminismus geht es heutzutage kaum. Das muss aber nichts Schlechtes sein.

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