Mit dem Theaterstück "Von den Beinen zu kurz" brachte das Mainfranken Theater in den Kammerspielen das Erstlingswerk der 23-jährigen Schweizer Dramatikerin Katja Brunner zur Aufführung, das vor fünf Jahren entstand und 2013 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde.
Nach den Vorgaben der Autorin sind die Szenen von "vier oder fünf Schauspielerinnen oder 13 Männern in Bademänteln" zu spielen. Regisseurin Katka Schroth schickt Petra Hartung, Claudia Kraus und Frya Kreutzkam in einem weißen, von Neonleuchten bis in den letzten Winkel ausgeleuchteteten Kubus ins Rennen um die Deutungshoheit über Glück, Unglück und Verbrechen in einer bürgerlichen Kleinfamilie, in der es zu einem Missbrauch der Tochter durch den Vater kommt.
Nur zwei Farben bringt Bühnen- und Kostümbildner Christoph Ernst mit dem Trio in hautfarbenen Strumpfhosen mit Pagenhöschen, sichtbar mit der Naht im Schritt verstärkt, Rollkragenpullover, High Heels und drei roten Kindergeigen ins Spiel. Es wirkt wie ein Signal, dass die Autorin bei dem heiklen Thema kein Blatt vor den Mund nehmen wird. Doch zwanzig quälend lange Minuten rührt sich nichts auf der Bühne; nur einige scheinbar zusammenhanglose Wortfetzen quellen wie aus einem übervollen Magen aus den Mündern.
Fast erleichtert nimmt der Betrachter die Musik auf, die in den sterilen Raum knallt und die jungen Frauen zum Tanzen bringt. Die bleierne Zeit ist vorbei, jetzt wird Tacheles geredet und sonst übliche Betroffenheitsrituale sind fehl am Platze. Aus dem Blickwinkel eines Kindes, das nach wie vor seinen Vater verehrt, trägt das Trio die Erinnerungen des Mädchens zusammen, das scheinbar weit weg von einer Opferrolle auf die eigene Misshandlung durch den Vater zurückblickt. Tabulos werden die Erlebnisse des fünf- und sechsjährigen Kindergartenkindes ans Tageslicht gezerrt, ohne dass dieses dabei den Vater als Täter und sich als Opfer sieht.
Im steten Wechsel schildern die drei starken Schauspielerinnen Einzelheiten der Misshandlung durch den Vater, sezieren aber gleichzeitig ohne Scheu die sehr ambivalenten Empfindungen des Kindes. Provokant lässt die Autorin mit einer für den Zuhörer unerträglich schmerzhaften Empathie Partei für den zur Lichtgestalt stilisierten Gutmenschen Vater ergreifen. Ähnlich und gut nachvollziehbar versetzt sie sich in die abgrundtiefe Gefühlslage der Mutter, die Ehemann und Tochter im Bett erwischt. Überwältigt von ihren Empfindungen sieht sie plötzlich in ihrer kleinen Tochter die Rivalin, die ihr den Mann streitig macht.
Es folgen sprachlich die stärksten Szenen, in denen sich die Frauen mit Piepsstimmen in die Rolle des kleinen Mädchen hineinversetzen, ungeduldig hin- und herlaufen, kichernd sich anrempeln, beim Sprechen verhaspeln und ohne Anklagen, doch wie auf einem Seziertisch die Übergriffe des Vaters im Streichelzoo oder beim Märchenerzählen zur Sprache bringen. Besonders berührend lässt Claudia Kraus kindliches Denken im Strudel kindlicher Erotik und altkluger Erklärungsversuche aufscheinen.
Mit dem Sprung des Vaters vom Aussichtsturm endet die fast zweistündige tragische Geschichte über einen Vater-Tochter-Inzest, über Ohnmacht, Verdrängung und unerfüllte Liebe.
Fern jeder Schwarzweiß-Malerei oder Schuldzuweisung reißt die Autorin in diesem beklemmenden Theaterstück am Beispiel einer scheinbar heilen Kleinfamilie den Mantel des Schweigens über die Tabuisierung von Machtverhältnissen und den gesellschaftlichen Nährboden für Fehlentwicklungen weg. Bei Übergriffen wird weggeschaut, verharmlost und so dem Kindesmissbrauch Tür und Tor geöffnet.
Katja Brunner reflektiert über die zum Wegrennen zu kurz geratenen Beine des Mädchens, das "schon immer eine zu kurz geratene Erwachsene" ist. Ein Wegrennen gibt es auch für die betroffenen Zuhörer nicht, die am Ende verzagt zu klatschen beginnen, doch auf der Bühne steht das Trio wie zum Auftakt festgewurzelt und schweigend. Ein erlösendes Ende bietet die packende Inszenierung nicht, doch ein paar Textkürzungen hätte sie unbeschadet überstanden. ferö
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