Enjoy Jazz Festival - Uraufführung von Emmanuel Witzthum „Verweile doch, du bist so schön“ am Mannheimer Nationaltheater

Konflikt zwischen Dur und Moll

Von 
Martin Vögele
Lesedauer: 
Das Stück „Verweile doch, du bist so schön“ wurde speziell für das Ensemble Modern komponiert. © Wonge Bergmann

Noch bis zum Juli dauern die bundesweiten Feierlichkeiten zu „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ an. Auch das Enjoy Jazz Festival würdigt dieses Jubiläum und hat einen Werkauftrag an den israelischen Komponisten Emmanuel Witzthum vergeben: „Verweile doch, du bist so schön“ verweist der Titel seines Stücks – das am 4. Juni mit dem Ensemble Modern im Opernhaus des Mannheimer Nationaltheaters uraufgeführt wird – auf den 1700. Vers aus Goethes „Faust“. Auch ein Gebetbuch spielt hierfür eine zentrale Rolle, das 1938 aus den Trümmern während des Novemberpogroms zerstörten Mannheimer Synagoge geborgen worden war.

Er habe ein wenig mit sich gerungen, „wie ich damit beginnen sollte, das Stück zu schreiben“, erinnert sich der Komponist. „,1700 Jahre jüdisches Leben’ ist ein riesiges Thema“, sagt er. „Es ist voll von beidem: von Inspiration und auch Verheerung.“ Dann hatte er die Idee, sich auf metaphorische Weise der jüdischen Identität im Vorkriegs-Deutschland anzunehmen und einen Dialog zu führen, zwischen dem Gefühl, sich eher deutsch als jüdisch zu fühlen – und in Gegensatz dazu „eher jüdisch als deutsch zu sein“, erläutert er. „Also versuchte ich, Bezugspunkte, musikalische Bezugspunkte zu finden, die diesen liminalen Raum möglicherweise erforschen könnten.“

Er begann, Lieder oder Texte aus der jüdischen Gemeinschaft zu suchen, auch jüdische Gebete, denn die Art und Weise, erläutert er, wie diese im Herzen Europa gesungen wurden, unterscheide sich sehr davon, wie sie beispielsweise in Nordafrika angestimmt wurden. Der Künstler suchte Archive in Israel und in Deutschland auf, ging in die israelische Nationalbibliothek und in verschiedene Museen. Es war in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, wo er auf ein Gebetbuch stieß, das ihn sehr interessierte. Er las darin und entdeckte, dass es aus Mannheim kam. Zwei Kinder, berichtet Witzthum, hatten es nach den Novemberpogromen gerettet. „Und ich fühlte, dass das die Basis meines Stücks sein musste.“

Führendes Ensemble

  • „Verweile doch, du bist so schön“ wird am Samstag, 4. Juni, 19 Uhr, im Opernhaus des Mannheimer Nationaltheaters uraufgeführt. Um 18.40 Uhr gibt der Schriftsteller Ilija Trojanow eine Einführung zu der Enjoy-Jazz-Auftragskomposition, die unter dem Dach der Reihe „Jüdisches Leben“ präsentiert wird.
  • Komponist Emmanuel Witzthum ist seit 2019 Teil des internationalen Gremiums „Thinkers in Residence“ des Enjoy Jazz Festivals.
  • Das Stück hat Witzthum für das Ensemble Modern (EM) geschrieben. Der 1980 gegründete und rund 20-köpfige Klangkörper zählt den führenden Ensembles für Neue Musik.

Offen strukturiertes Stück

Er nahm zwei Gebete aus dem Buch: „Shma Israel“ („Das erste monotheistische Gebet der Zivilisation“ und zugleich das erste, „das das jüdische Volk an Gott bindet“) und „Lecha Dodi“ – mit Letzterem werde der Schabbat willkommen geheißen, so Witzthum. „Shma Israel“ sei in d-Moll, „Lecha Dodi“ in G-Dur geschrieben: „Dieser Konflikt zwischen Moll und Dur wurde zur Essenz des ganzen Stücks“, schildert der Musiker. Er nahm die Melodien und löste sie in Felder, in Ton- und Harmonien-Gruppen auf. Jede dieser Einheiten erkunde liminale Zustände, und auch der Stücktitel selbst spielt auf ein solches Zwischenraum-Bewusstsein an: „Das ist genau der Moment, in dem Faust Mephistos Angebot annimmt. Er ist so glücklich darüber, dass er in diesem Moment bleiben will. Und doch ist der letzte Schritt noch nicht vollzogen.“ Für Witzthum repräsentiert das die Zeit in den 1930er Jahren: „Wir sehen, was die Zukunft bereit hält. Einige sahen und trafen eine Entscheidung zu gehen. Einige sahen und trafen eine Entscheidung zu bleiben“, führt er aus.

Das Stück sei offen strukturiert, so dass die Musiker das Geschriebene nicht spielen, sondern vielmehr interpretieren und aus sich selbst heraus eine „Gemeinschaft“ (wir unterhalten uns auf Englisch, aber dieses Wort spricht er auf Deutsch) kreieren müssen. „Sie müssen ein Gespür dafür entwickeln, zusammen zu gehören“, meint er – was auch das sei, was bei einem jüdischen Gebet in der Synagoge geschehe.

Kantor singt Gebete im Studio ein

Für das Stück hat Amnon Seelig, Kantor der jüdischen Gemeinde Mannheim, unter anderem die vorgenannten Gebete in einem Studio in Schwetzingen eingesungen. Die Samples seines Gesangs werden nun in einem Teil der Komposition verwendet.

„Es war immer mein Anliegen, ein bisschen traditionelle Melodien zurück in die Synagoge zubringen“, so Seelig. „Und in den letzten Jahren verstehe ich nach und nach, dass das beinahe unmöglich ist“, fügt er hinzu. Warum? „Weil die Menschen schon andere Melodien und Erwartungen in den Köpfen haben. Die Geschichte hat sich nicht natürlich entwickelt, sie wurde abgebrochen. Und sofort nach dem Krieg entstanden neue Traditionen, die mittlerweile schon fast 80 Jahre alt sind. Es ist jetzt schwer, zurückzukommen zu etwas, woran keiner sich erinnern kann.“

Wir sind extrem gespannt, was mit „Verweile doch, du bist so schön“ Neues aus Fragmenten von Erinnerung und Überlieferung geschaffen wird.

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen