Staatsoper Stuttgart - Lotte de Beer inszenierte Verdis Oper „Don Carlos“ in fünf Akten

Kampf zwischen Masse und Individuum

Von 
Dieter Schnabel
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Rund vierdreiviertel Stunden, einschließlich zweier Pausen, dauert die erste Premiere der Spielzeit 2019/20 in der Staatsoper Stuttgart. Das rührt daher, dass Giuseppe Verdis „Don Carlos“ in der selten gespielten fünfaktigen Fassung vorgestellt wird und dass die häufig gestrichene Ballettmusik, wenn auch verändert, zu hören ist.

Von der Pariser Grande Opéra stammte der nach der „Macbeth“-Premiere im Théâtre Lyrique 1865 erteilte Kompositionsauftrag. Und eine wahrlich große Oper in fünf Akten, mit Autodafé und Ballett, war es denn auch, was Verdi zwei Jahre später vorlegte. Doch der erste Akt wurde nur in der Generalprobe gespielt, bei der Uraufführung am 11. März 1867 war er, wie auch andere Passagen, gestrichen. Es war die vierte Oper Verdis, die auf einem Drama von Friedrich Schiller fußte.

Ränkespiel

Zeichnete dieser jedoch in seinem „Don Carlos“ ein sowohl politisches und religiöses als auch familiäres, vielschichtiges, historisches Gemälde aus Spanien im 16. Jahrhundert, so verdichteten und verengten Josephe Méry und Camille du Locle das Opernlibretto zu einem psychologisch gut durchdachten Ränkespiel der treffend charakterisierten Personen, wobei die politischen Momente, zugunsten der familiären, etwas in den Hintergrund rückten, während den religiösen Aspekten noch die gleiche Bedeutung zukam.

In Stuttgart ist nun davon die Rede: „Verschiedene Konflikte und Krisen haben den Planeten verändert, es herrscht politisch-ideologischer Ausnahmezustand“ und weiter: „Vor diesem Hintergrund inszeniert Lotte de Beer Verdis Meisterwerk als einen Kampf zwischen Masse und Individuum um die Entscheidungsgewalt“. So weit die Theorie, in der Praxis, in der Aufführung selbst, ist davon kaum etwas zu sehen. Allenfalls im ersten Akt, der bei Fontainebleau spielt, wo sich der Titelheld und Elisabeth von Valois zum ersten Mal begegnen, er ihr seine Liebe gesteht und der Chor das Elend in Flandern zum Ausdruck bringt: „Der Winter ist lang, das Leben ist hart, im Wald muss alles sterben“.

Was danach folgt, das sind stilisierte Bilder von Verdis Oper, in der auch Schillers Forderung „Geben Sie Gedankenfreiheit“ zu hören ist. Von einem „Kampf zwischen Masse und Individuum um die Entscheidungsgewalt“ kann aber keine Rede sein. Manchmal glaubt man sich sogar in eine Idylle versetzt, wenn Hofdamen in Weiß vor einem weiß blühenden Baum kauern.

Ordnung ist dass beherrschende Element. Das zeigt sich in der Aufstellung des Hofstaates ebenso wie beim Auftritt der Geistlichkeit. Dabei gelingen der 36-jährigen Opernregisseurin Lotte de Beer sowohl die Führung des von Manuel Pujol einstudierten Chors als auch die darstellerische Charakterisierung der Solisten überzeugend. Christof Hetzer setzt bei der Ausstattung auf Weiß. Das gilt sowohl hinsichtlich der sparsamen Möblierung der Bühne als auch im Hinblick auf die Kostümierung der Akteure.

„Don Carlos“ ist das erste Werk Verdis, in dem die ihm eigene, die ältere Nummernoper überwindende Musikdramatik voll ausgeprägt ist. Dabei gab er, trotz der immer reicheren orchestralen Ausgestaltung seiner Werke, nie den Primat der menschlichen Stimme in der Oper auf, die er stets in erster Linie als vokale Kunst begriffen hat. Und so sind es, neben den stimmungsvollen, in dunklen Velázquez-Farben komponierten Orchesterparts, die dramatischen Duette, die in dem Musikdrama der Dialoge dominieren.

Durchaus nuancenreich, sowohl den dramatischen als auch den leidenschaftlichen und den schwermütigen Passagen der zuweilen pompösen Komposition gerecht werdend, dirigiert Cornelius Meister das Staatsorchester Stuttgart. Stimmlich überzeugende Leistungen bestimmen das Niveau der Aufführung.

Als Elisabeth von Valois wartet Olga Busuioc mit einem strahlenden, sowohl dramatischen als auch gefühlvollen Sopran auf. Ausdrucksstark, in stimmlicher als auch darstellerischer Hinsicht setzt sich die Mezzosopranistin Ksenia Dudnikova als Prinzessin Eboli in Szene. Seinen profunden Bass leiht Goran Jiric Philipp II.. Mit dräuendem Bass-Bariton gestaltet Falk Struckmann die Partie des Großinquisitors.

In der Titelrolle gebietet Massimo Giordano über einen expressiven, wenn auch nicht gerade ausgeglichenen und immer schön klingenden Heldentenor. Als Marquis von Posa lässt Björn Bürger mit einem schlanken, gut geführten Kavaliersbariton aufhorchen.

Ein Sonderlob verdienen der Bass Michael Nagl als Mönch und die Sopranistin Claudia Muschio als Stimme vom Himmel.

Am Ende der Vorstellung in der Staatsoper gab es reichen Beifall, aber auch nicht zu überhörende Buh-Rufe für die Regisseurin und den Ausstatter. Dieter Schnabel

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