"Nichts!" Das antwortet Cordelia auf die Frage ihre Vaters Lear, was sie über ihre Liebe zu ihm sagen könnte. Ihre Schwestern Goneril und Regan hatten sich zuvor unter allen möglichen Verrenkungen zu Huldigungen an ihren Vater gequält - immerhin ging es ja um ein Drittel seines Reiches. Cordelia sagt "Nichts" - und erläutert das in der Heilbronner Inszenierung von Williams Shakespeares Tragödie "König Lear" ganz im Gegensatz zum Text Shakespeares auch nicht weiter.
Nichts - diese Antwort auf die Frage nach den existenziellen Dingen zieht sich cantusfirmusartig durch die Inszenierung von Johanna Schall, die am Samstag am Großen Haus Premiere hatte - und die Besucher ziemlich ratlos zurück ließ.
Die Jungen steigen, das Alte fällt
Was ist das Besondere an der Tragödie vom "König Lear", die gemeinhin als Shakespeares tiefgründigstes Stück gilt und doch auf deutschen Bühnen nicht so viel Beachtung gefunden hat wie "Hamlet" oder "Macbeth". Vielleicht liegt das daran, dass es im "Lear" keine klaren Linien zwischen Gut und Böse gibt.
Die Mächtigen sind hochgradig verrückt, der Narren - manchmal, nicht immer - weise. Die Jungen steigen, wenn das Alte fällt - und schon dreht das Rad der Fortuna sich weiter und auch die Jungen stürzen in den Staub. Der Tod ist der Ausweg aus einer trostlos-düsteren Welt - gestorben wird viel im "König Lear".
Lear, das ist in der Interpretation der Regisseurin ein ziemlich autoritärer Kerl - Stefan Eichberg spielt die Paraderolle für jeden Schauspieler mit kalter Menschenverachtung, auch später, in seinem Unglück, wird er kein besonders sympathischer Leidender sein. Die Teilnehmer an seiner Audienz, bei der er seinen Rücktritt bekanntgab - "S' ist fest Unser Vorsatz, Sorgen und Müh von Unsern Jahrn zu schütteln, sie jüngren Schultern aufzulasten, während Wir entbürdet kriechen hin zum Tod" - die Schwestern, ihre Ehemänner, der Hofstaat mögen es nicht glauben, denn zitternd umstehen sie bei den Abschiedsworten den König, der seinen Thronverzicht zu einer letzten (man kann nur ahnen: in einer Reihe von vielen) Demütigung seiner Töchter macht.
Das ist ein durchaus interessanter Interpretationsansatz: Die Schwestern Goneril und Regan sind Opfer, bevor sie zu Täterinnen werden. Lear ist nicht nur ein eitler alter Mann, sondern ein Machtmensch, der gar nicht daran denkt, die Macht aus der Hand zu geben.
Doch diesen Ansatz verfolgt die Regisseurin nicht weiter, denn es geht ihr nicht um psychologisierendes Theater und auch nicht um moralisierendes. Stattdessen betont sie das Artifizielle des Theaters: Während vorne an der Bühnenrampe die großen, die existenziellen Themen verhandelt werden, nehmen die Schauspieler, die gerade nicht dran sind, im Hintergrund Platz und warten auf ihren Auftritt.
Und: Die Regisseurin ist offenbar fasziniert vom Theater der Grausamkeit, in dem die Reflexion durch die Aktion ersetzt ist. Und in dem Bilder mehr sagen als tausend Worte. Diese Worte stammen übrigens aus Frank Günthers Übersetzung, die sehr viel plastischer und drastischer (und zweifellos näher am Original) ist als die von Wolf Graf von Baudissin in der Schlegel-Tieck-Übersetzung.
Da wird der Graf Gloucester durch Augeneindrücken geblendet, da kämpfen Edmund und Edgar einen langen, viel zu langen Kampf, der gleichzeitig an Star Wars und Shaolin-Filme erinnert. Der Herzog von Albany stirbt an einer blutenden Kopfwunde, der Narr wird noch vor der Pause erdrosselt. Und ganz zum Schluss rutschen die hinten am Bühnenrand liegenden Leichen auf der schrägen Bühne (Horst Vogelgesang) nach unten, zurück ins Zentrum des Geschehens.
In diesen grausamen Szenen gehen die großen Momente der Tragödie unter, die Monologe Lears im Gewitter auf der Heide, sein Abschied von der toten Cordelia. Fast scheint es, als ob die Regisseurin Edmund, der totale Machtmensch, mehr interessierte als Lear. Sebastian Weiss spielt ihn mit der sorglosen Kälte, die der Bastard braucht, um sich von unten hochzubringen.
Auch die anderen Akteure des Abends, von Jenny Schall in farblich "sprechende" Kleider gehüllt, setzen Glanzlichter in der Inszenierung, Gabriel Kemmether als Narr, Joachim Foerster als Edgar, Frank Linert-Mondanelli als sein Vater, Sabine Unger als Gräfin (!) von Kent, Guido Schikore als Oswald und Luise Schubert als Cordelia sowie die "bösen" Ehepaare Tobias D. Weber/Sylvia Bretschneider (Albany Regan) und Fabian Schiffkorn/Judith Lilly Raab (Cornwall/Goneril).
Trotz der schönen Ensembleleistung: Der Rezensent konnte nicht anders, als sich am Ende an Brechts viel zitiertes Diktum zu erinnern: "Der Vorhang zu und alle Fragen offen."
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/kultur_artikel,-kultur-im-reich-der-maechtigen-und-irren-_arid,790471.html