„Nein in Rot“ nennt Elvira Bach 1999 ihre farbige Schönheit, die nicht nur in feurig roter, reichlich dekolletierter Robe (teils hellblau konturiert) den Betrachter ins Visier nimmt, sondern einen Bund Radieschen in der Hand hält. Radieschen statt Röschen? Ein Schalk, wer dabei nicht an die makabre Filmkomödie „Radieschen von unten“ denkt – seither ist der Filmtitel zum geflügelten Wort avanciert und signalisiert die Todesperspektive. Eben diese thematisiert auch Malte Brekenfeld 2010 Im Wimmelbild „Das große Fressen“. Wie im gleichnamigen Film wird exzessiv geschlemmt. Übermäßiger Konsum und Dekadenz bis zum Exitus – was der Film über zwei Stunden zelebriert, verdichtet das Bild anspielungsreich zur einer großangelegten Metapher der Selbstzerstörung.
Bach wie Brekenfeld legen den neoexpressionistischen Finger in die gesellschaftliche Wunde, frech, satirisch und reflektiert. Bach (Jahrgang 1951, im Westen aufgewachsen) und Brekenfeld (Jahrgang 1966, im Osten sozialisiert) sind zwei von 28 Exponenten der aktuellen Ausstellung „Vom Blauen Reiter zu den Jungen Wilden. Expressive Malerei aus einer unbekannten Privatsammlung“.
Die chronologisch strukturierte Schau spannt auf den drei Etagen der Kunsthalle Vogelmann den Bogen vom sich ankündigenden Expressionismus um 1900, über Gemälde der Künstlergruppe „Die Brücke“ und des Zusammenschlusses „Der Blaue Reiter“ bis hin zu Beispielen des Verismus und des figurativen Expressionismus. Dabei treten die Arbeiten der zeitgenössischen Künstler in einen Dialog mit den Bildern vorausgegangener Künstlergenerationen.
„Nicht Vorbilder sind die alten Wilden, beziehungsweise Expressionisten, sondern Rückbilder für die Jungen. Erst rückwärtsblickend erscheinen uns die Alten so, als hätten sie Ähnlichkeit mit den Jungen“, schrieb der Künstler und Theoretiker Bazon Brock. Aufgrund der Jungen seien wir in der Lage, das aus den Alten herauszusehen, was wir ohne die Jungen nicht wahrgenommen hätten.
Ein Vergleich von Modersohn-Beckers „Bäuerin zwischen Birken“ mit Elvira Bachs „Nein in Rot“ verdeutlicht das: Die Modersohn postuliert um 1904/05 ein neues Frauenbild, präsentiert die Landfrau mit geradem klarem Blick zum Betrachter, nicht so konfrontativ wie knapp hundert Jahre später die Diva der Bach, etwas abgearbeitet vielleicht, aber ebenso formatfüllend.
Viele Nuancen
Die Farbe der Leidenschaft entbehrt das Bild. Es bescheidet sich farblich mit erdigen Tönen in vielen Nuancen und setzt mit zartem Himmelblau einen lichten Hintergrund. Farbakzente in gebrochenem Rostrot finden sich in einem anderen Gemälde: „Liegendes Mädchen mit Kind“. Birken im Hintergrund und der lichtblaue Himmel lassen an die gleiche Szenerie, möglicherweise die gleiche Tageszeit denken.
Mit dem Bach-Bild im Hinterkopf entwickeln die Modersohn-Bilder eine völlig andere Dynamik: Wie Schnitt und Gegenschnitt korrespondiert der Blick der Bäuerin, versonnen, wohlwollend und schmunzelnd, nicht mit dem unbekannten Betrachter, sondern mit den beiden im Gras spielenden Kindern.
Vom gedämpften Rost über Ziegelrot (Erich Heckels „Ziegelei“) reicht die Skala der Signalfarbe bis zur subtilen Leuchtkraft (Gabriele Münters „Roter Hügel“) und fast transparent anmutend, als aprikose-farbener Charleston-Look im „Interieur, 1922“ von Max Pechstein.
Im Fokus der süddeutschen Privatsammlung, die erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wird, steht die Leidenschaft für die Kunst, motiviert (nicht von kommerziellen oder gar spekulativen Interessen) von einem persönlich geprägten Blick auf Entwicklungen innerhalb der deutschen Malerei seit der Jahrhundertwende.
Die Kollektion aus Arbeiten von Schlüsselfiguren der deutschen Malerei wie Lovis Corinth, Karl Hofer, Karl Hubbuch, Alexej von Jawlensky, Max Liebermann, Paula Modersohn-Becker, Gabriele Münter, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff wurde über 25 Jahre hinweg aufgebaut und von der zweiten Sammlergeneration der Familie weitergeführt.
Wie sich die expressive Malerei in Deutschland seit den 1980er Jahren weiterentwickelt hat, zeigen exemplarisch die Bilder der „Jungen Wilden“ Elvira Bach, Helmut Middendorf und Ralph Fleck, aber auch Positionen wie Ruth Baumgarte, Malte Brekenfeld und Sighard Gille treten in einen spannungsreichen Dialog mit den Wegbereitern der expressionistischen Kunst.
Fast visionär
Und wer hätte zu Beginn der Ausstellung am 29. Februar gedacht, dass ein Motiv wie „Stadion 23/1, 2018“ von Ralph Fleck nach acht Wochen plötzlich auffallen würde: sommerlich gekleidete Menschen sitzen ohne Mund-Nasen-Schutz dicht an dicht auf einer Zuschauertribüne – angesichts leerer Ränge und anderer Corona bedingter Ver- und Gebote wirkt diese glückliche Vergangenheit plötzlich visionär!
Ausstellung „Vom Blauen Reiter zu den Jungen Wilden. Expressive Malerei aus einer unbekannten Privatsammlung“ in der Kunsthalle Vogelmann Heilbronn, Allee 28. Öffnungszeiten sind Dienstag, Mittwoch, Freitag: 11 bis 17 Uhr, Donnerstag: 11 bis 19 Uhr, Samstag, Sonntag, Feiertag (außer montags): 11 bis 17 Uhr.
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/kultur_artikel,-kultur-im-fokus-steht-die-leidenschaft-fuer-die-kunst-_arid,1646801.html