Ein Theater ist ein Haus aus Geschichten. Aber doch in erster Linie ein Haus. Und zu einem Haus kann man dazu gehören oder es von außen betrachten. Man kann es verändern, die Möbel austauschen, es neu streichen und dekorieren. Jedes Haus erzählt mit Vorliebe seine eigene Geschichte. Auch die kann man umschreiben. Und man kann alte, tote Geschichten aus dem 19. Jahrhundert ins Hier und Jetzt transportieren.
Heute steht im großen Haus in Heidelberg ein Haus auf der Bühne. Das Zuhause von Nora und Torvald Helmer. Es erinnert an ein Spielzeug. Helles, duftendes Holz, schlichtes skandinavisches Design. Doch es ist gar nicht so einfach, in den ersten Stock zu gelangen. Die steile Treppe führt ins Nichts, und wer in Helmers Wohnung will, muss sich geschickt um die Ecke hangeln zu Vater, Mutter und drei Kindern, die sich als Familie verkleiden.
Am Anfang ist noch alles glänzendes Lametta. Weihnachten steht vor der Tür und der Advokat Torvald Helmer wird zum Bankdirektor befördert. Eine gesicherte Stellung zu haben, ein reichliches Auskommen, ist für ihn ein herrlicher Gedanke. Ja, der Gedanke ist ein Hochgenuss. Dass sich Nora, sein „Frauchen“, zu Weihnachten Geld wünscht, irritiert ihn. Der Grund, das wird schnell klar, ist ein dunkles Geheimnis.
Der Konsum, das Püppchen und sein dunkles Geheimnis
Henriette Blumenau ist eine sehr gegenwärtige Nora, sie ist Püppchen und banal, Zicke und eitle Cholerikerin, springt von Ibsens Text ansatzlos in die Konsumwelt der Gegenwart, träumt von Jet-Ski und Champagner bis der Arzt kommt. Tatsächlich steht plötzlich ihre alte Freundin Kristine (Marie Dziomber) im Haus und führt ihr vor Augen, wie schnell man aus dem ersten Stock abstürzen kann: Vernunftehe, Pleite, Witwe, Arbeit. Ihr gesteht Nora, dass sie mit einer gefälschten Unterschrift vor acht Jahren Geld geliehen hat, um ihren todkranken Mann zu retten.
Als auch noch der Bankangestellte Krogstad auftaucht und Nora damit erpresst, beginnt ihre Stellung in Helmers Haus und Welt zu wanken. Denn Torvald ist ein wahrer Protestant, er spart, er leiht sich nichts und vergibt auch keine Schuld.
Die Bearbeitung von Ibsens Klassiker durch Sivan Ben Yishai, Gerhild Steinbuch und Ivna Zic zu einem „Thriller“ findet sich vor allem in der musikalischen Untermalung von Tommy Baldu. Mit seiner Perkussion reguliert er die Spannung, legt einen Wirtschaftswundersound über die an Barbie und Ken erinnernden pastellfarbenen Hauptfiguren und dynamisiert die Monologe, die Gerhild Steinbuch Ibsens Text hinzugefügt hat. Ivna Zic versetzt sich in die Gefühlswelt der drei Kinder, deren Gespräche um die Mutter, die sie verlassen hat, kreisen. Eingesprochen von Anton Amores Schmölz, Greta Reus und Magnus Ring werden sie von Leon M. Spiegelberg, Marie Dziomber und Thorsten Hierse teils lippensynchron gespielt.
Hin und her gerissen zwischen gesellschaftlichem Auf- und Abstieg, Hoffnung und Verzweiflung schlittert Nora in eine zunehmende Panik. Krogstad, in dem Leon Maria Spiegelberg zeitweise einen kleinen Horror-Clown aufblitzen lässt, ist eine echte Bedrohung. Torvald (Friedrich Witte) hingegen scheint Regisseurin Jana Vetten eher als bürgerliche Witzfigur aufzufassen, so dass er für die schillernde Nora nur selten einen würdigen Gegenspieler darstellt.
Der unterhaltsame Mix endet mit einem zerstörerischen Fanal
Bis zur Pause der gut zweistündigen Aufführung ergeben Ibsen und die drei jungen Autorinnen, die mit ihren Texten drei neue Zimmer voller sehenswerter Effekte an das Puppenheim angebaut haben, einen unterhaltsamen Mix. Die letzte dreiviertel Stunde gehört der Dekonstruktion oder, wie Sivan Ben Yishai, die 2019 Hausautorin am Nationaltheater Mannheim war, es formuliert, der „Kompostierung des Herrenhauses“. Und damit dem Versuch, gleichzeitig Ibsens Stück, das Frauenbild und das Theater aus den Angeln zu heben.
Die Treppe auf der Bühne führt immer noch nach oben, endet aber an einer Wand. Torvald und Nora spielen sich in feudalistischen Kostümen (Eugenia Leis) an das Ende ihrer Ehe. Wo vorher immer mal wieder das Mansplaining durch den Kakao gezogen wurde, baut sich jetzt neben der Handlung eine feministische Erklärungswelle auf, die Metaphern über Häuser und Geschichten vor sich her spült.
Irgendwann schwappt diese Welle von der Rampe zurück auf die Bühne. „Stell dir vor“, hört man Noras Kinder aus dem Off, „es gibt unsere Mutter auch unabhängig von dir. Und von mir. Stell dir vor, wie befreiend das sein kann, mit einer solchen Mutter durch die Welt zu schreiten, von ihr umarmt zu werden und von ihr zu lernen.“ Muss man sich Nora also immer als Mutter vorstellen? In Jana Vettens Inszenierung verlässt Ibsens Heldin nicht nur Mann und Kinder, sie setzt sich und das Puppenhaus in Brand. Auch wenn man der Figur überraschendere Facetten gewünscht hätte, wird von dieser Inszenierung durch Henriette Blumenau eine ziemlich grandiose Nora in Erinnerung bleiben.
Henrik Ibsen und „Nora. Ein Puppenheim“
Mit Nora Helmer (1879), „Die Frau vom Meer“ (1888) und Hedda Gabler (1890) hat der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen (1828-1906) erstmals Frauen als Hauptfiguren auf die Bühne gebracht. Ibsen gilt als einer der Begründer des Modernismus im Theater. Sein Drama „Stützen der Gesellschaft“ von 1877 gilt als erstes naturalistisches Gesellschaftsdrama.
Ibsen rückte dann das Individuum und dessen psychologische Deutungen in den Mittelpunkt. In Deutschland wurde „Nora“ erstmals 1880 in Hamburg aufgeführt.
Dafür wurde allerdings das Ende, in dem Nora Mann und Kinder verlässt, weggelassen, weil so etwas in der bürgerlichen Welt damals undenkbar war.
„Nora. Ein Puppenheim“ wurde vielfach verfilmt unter anderem mit Olga Tschechowa, Maria Schell und Jane Fonda. Weitere Aufführungen: 6.und 13.Juli sowie am 23.und 27.Oktober. FB
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