Das Wichtigste in Kürze
- Ian Anderson spricht über das neue Jethro-Tull-Album und seine Neugier.
- Anderson bevorzugt öffentliche Verkehrsmittel und lehnt KI ab.
- Er ist optimistisch und interessiert am Fortschritt und der Zukunft.
Ein halbrundes beiges Sofa in einem Berliner Plattenfirmenbüro. Ian Anderson, der Flötist und Sänger, Gitarrist und Komponist, blickt umher, als blende ihn das Interieur, dabei sitzt er schon seit Stunden hier, um über „Curious Ruminant“ zu sprechen, das jüngste Album seiner wiederbelebten Langzeitliebe Jethro Tull. Der Titel heißt so viel wie „Neugieriger Draufherumkauer“. Man könnte mit dem 77-Jährigen jetzt darüber reden, dass die neuen Lieder etwas sanfter, folkiger, verspielter und irgendwie wärmer klingen als die der vorangegangen Platten „RökFlöte“ und „The Zealot Gene“, dass die neue Musik mehr denn je anmutet wie die alte, mit der Jethro Tull in den Siebzigern berühmt wurde. Man könnte auch tief in die Vergangenheit einsinken, über die von Anderson verantworteten Meilensteine der Rockgeschichte sprechen oder zum zehnmillionsten Mal die Frage stellen, ob er es rückblickend bereue, die Einladung zum Woodstock-Festival ausgeschlagen zu haben. Aber es ist so: Ian Anderson, von Weggefährten bisweilen als knorrig und kauzig beschrieben, entscheidet ganz allein, worüber er sich unterhalten möchte. Bei unserem Treffen ist das in erster Linie: seine Abenteuerlust und Wissbegierde.
Wie geht es Ihnen, lieber Ian?
Ian Anderson: Danke. Konstant, würde ich sagen. Das genügt mir völlig. Ich bin ein Freund der Kontinuität. Was die körperliche und geistige Gesundheit angeht, schätze ich das Gefühl, wenn über Nacht keine neuen Problemchen hinzugekommen sind.
Unternehmen Sie aktiv etwas für Körper und Geist?
Anderson: Zwei Stunden Aerobic, aber ich werde dafür bezahlt. Denn so empfinde ich meine Konzerte. Man steht auf der Bühne, wird heiß und schwitzig, atmet viel und übt ein gewisses Maß an körperlicher Bewegung aus. Es ist viel besser, als ins Fitnessstudio zu gehen und eine Mitgliedschaft zu bezahlen, um ein paar der schmierigen und vollgeschwitzten Geräte zu benutzen.
Gibt es neuere gesellschaftliche oder technische Errungenschaften, die Sie gern mögen?
Anderson: Ich musste mich irgendwann gegen Mitte der achtziger Jahre mit der Technologie von Heimcomputern und digitaler Aufnahmetechnologie auseinandersetzen. Das wurde zur Norm. Und so versuche ich, diese Technologie sowohl in meine Auftritte als auch in das Schreiben von Songs einzubauen. Aber was neuere Technologien angeht, möchte ich mit einigen davon nichts zu tun haben, ganz besonders nicht mit der sogenannten Künstlichen Intelligenz.
Ihr neues Album ist gewiss ganz ohne KI entstanden?
Anderson: Natürlich. Es gibt keine Auto-Tune-Vocals oder so etwas. Ich meine, ich könnte ja auch die Art von Technologie nutzen, die Mick Jagger seltsamerweise für den Titeltrack des letzten Stones-Albums verwendet hat. Mick Jagger im Takt singen zu hören, als wäre er eine Maschine, das klingt furchtbar. Einfach furchtbar. Ich kann nicht glauben, dass er sagte, oh, ich möchte meine Stimme durch Auto-Tune laufen lassen, damit ich wie Madonna klinge. Oder doch? Die Leute lachen ihn jedenfalls aus.
Sie spielen wahrscheinlich auf das Stück „Angry“ an?
Anderson: Kann schon sein. Weiß nicht genau. Ich bin einfach kein großer Stones-Fan und konnte mir deren Songtitel noch nie gut merken.
Sie selbst schreiben auch seit sechzig Jahren Songs, fast so lange wie die Kollegen. Wie funktioniert das bei Ihnen? Ist es mehr Handwerk oder mehr Kunst?
Anderson: Ich habe wahrscheinlich vier oder fünf verschiedene Ansätze zum Schreiben von Musik, und ich versuche, sie zu variieren und ein bisschen Abwechslung reinzubringen. Erstens, um mir als Komponist das Leben interessant zu machen, und zweitens, damit die Lieder nicht alle gleich klingen.
So oder so ist auf Sie Verlass.
Anderson: Nun, meine Zeit auf Erden wird irgendwann enden. Vorher will ich so viel Musik machen wie ich kann. Aber als es um das neue Album ging, hatte ich bis etwa Mai letzten Jahres keine wirklich klare Vorstellung davon, was ich tun wollte, als ich tatsächlich anfing, an den Texten für das Album zu arbeiten. Und zu diesem Zeitpunkt hatte ich zwar einige musikalische Ideen und einige Sachen, die ich zuvor aufgenommen hatte, wie den langen Track mit den Flöten, aber ich fing mit dem gesamten Gesang bei null an.
Besagte Nummer „Drink From The Same Well“ ist sechzehn Minuten lang.
Anderson: Den Song habe ich ursprünglich 2007 als Demo geschrieben, mit unserem damaligen Keyboarder Andrew Giddings, und es wurde mit der Absicht geschrieben, es als Grundlage für eine Aufführung mit dem klassischen indischen Flötisten Hariprased Chaurasia, zu verwenden. Aber als er das Demo hörte, war er, glaube ich, nicht sehr beeindruckt, aus welchem Grund auch immer. Das Musikstück geriet dann in Vergessenheit. Mein Sohn fand es Anfang letzten Jahres. Als ich es hörte, dachte ich, das ist unglaublich. Das Flötenspiel gehört wirklich zu dem besten, das ich je aufgenommen habe. Also schrieb ich ein paar Worte und eine Melodielinie und behielt Andrew Giddings Keyboardparts. Und ich habe Bassgitarre, Akustikgitarre, E-Gitarre, Schlagzeug und Cajon hinzugefügt. Mit sechzehn Minuten ist es, glaube ich, der längste Jethro-Tull-Track seit „Thick As A Brick.“
„Thick As A Brick“ war 43 Minuten lang, wenn ich das richtig im Kopf habe.
Anderson: Ja. 21 oder 22 Minuten pro Vinylseite. Das war gerade noch okay. Nur ein bisschen länger, und du musstest den Aufnahmepegel reduzieren, weil die Rillen auf der Nadel den Lack einschneiden.
Sind Sie selbst Vinyl-Fan?
Anderson: Ich mochte Vinyl-Schallplatten nie wirklich. Ich war immer enttäuscht vom Endergebnis, das im Vergleich zu den Masterbändern, an denen wir im Studio gearbeitet hatten, nicht so gut klang. Ich bin auch zu faul, aufzustehen und die Platte umzudrehen. Ich höre Musik normalerweise als 24-Bit-Digitaldateien in hoher Qualität.
Das Album heißt nicht ohne Grund „Curious Ruminant“. Praktisch jeder einzelne Song bietet inhaltliches Futter, an dem man zu knabbern hat.
Anderson: Ich versuche, mir jeden Tag Zeit zu nehmen, um ein bisschen neugierig zu grübeln. Ich mag es sehr, Neues zu erfahren und Dinge zu lernen. Das ist eine wichtige Sache, der man sich jeden Tag widmen sollte, besonders wenn man älter wird.
Ist das mit dem Älterwerden ein großer Mist?
Anderson: Es bleibt uns nur eine begrenzte Zeit. Das ist in der Tat bedauerlich. Ich versuche ungefähr alle zwei Wochen, eine Reise zu unternehmen, die mich inspiriert.
Was war denn die letzte spannende Abenteuerreise?
Anderson: Ich habe gestern hier in Berlin das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors und das Spionagemuseum besucht. Ich habe den Zweiten Weltkrieg nicht erlebt, aber meine Eltern haben zur Zeit des Aufstiegs des Nazi-Regimes angefangen, eine Familie zu gründen. Sie haben den gesamten Zweiten Weltkrieg und die Nachwirkungen bis weit in die Jahre des Kalten Krieges hinein miterlebt. Ich fühle mich also sehr stark als Produkt dieser ganzen Zeit. Die Idee ist: Hingehen und die Dinge erleben und begreifen. Ich meine, ich wusste viel über Tschernobyl, bevor ich dorthin ging, aber als ich dort war, hatte es für mich eine ganz besondere, große Bedeutung.
Sie waren in Tschernobyl?
Anderson: Ich durfte in den Pumpenraum von Reaktor 3 hinunter, der neben dem Kernschmelzreaktor liegt. Man geht mit einem Dosimeter hinein und hört, wie es immer heftiger „tack“ macht, je näher man an die dicke Betonwand kommt, hinter der der Kernschmelzreaktor legt. Man darf höchstens eine Minute dort unten bleiben, dann wird die Strahlendosis zu hoch. Es ist berührend, wenn man an einem Ort ist, an dem so etwas Schreckliches passiert ist, und es hätte ja noch viel schlimmer kommen können. Tschernobyl ist ein Desaster gewesen, aus dem die Welt gelernt hat.
Wann waren Sie dort?
Anderson: Das war 2017 oder 2018. Ich spielte ein Konzert in Kiew, Zwei meiner Roadies und ich sind mit dem Arbeiterzug mit den Aufräumarbeitern gefahren, die in einer neu errichteten Stadt etwa zwanzig Kilometer von Tschernobyl entfernt leben. Sie müssen auf dem Weg hinein und auf dem Weg hinaus Strahlentests unterzogen werden. Diese Arbeit wird noch 75 Jahre weitergehen, bis hoffentlich all das hochkontaminierte Zeug entfernt wurde.
Sie haben echt ein wildes Leben. Letztes Mal erzählten Sie, wie Sie Putin getroffen haben, nun die Tschernobyl-Geschichte…
Anderson: Diese Dinge sind wichtige und wertvolle Erfahrungen, die mich glücklich machen. Ich war auch im Spaceshuttle „Atlantis“, kurz nachdem es von seiner letzten Mission zurückgekommen war, Man hat es auseinandergenommen und gereinigt und als öffentliches Exponat ausgestellt. Im Cockpit des Spaceshuttles zu sitzen, bringt mir mehr Nervenkitzel als in einem Formel-1-Auto von Ferrari eine Runde zu drehen. Ich mag besondere Orte. Orte des Schreckens und der Beklemmung. Ich war auch in Auschwitz und im Torpedoraum eines Atom-U-Boots.
Zur Tournee
- Jethro Tulls 24. Album „Curious Ruminant“ ist bei Inside Out erschienen.
- Die Band des 77-jährigen Ian Anderson geht ab 2. April auf Tournee. In Fahrweite der Metropolregion spielen Jethro Tull am 1. August ein Open Air in Bad Krozingen, am 2. August im Kloster Hirsau in Calw und am 12. August in Bad Nauheim.
- Alle Termine und Karten unter jjethrotull.com. jpk
Was denken Sie über Elon Musk, der ja womöglich in nicht allzu ferner Zukunft Reisen zum Mars anbieten will?
Anderson: Ich möchte wirklich nicht sagen, was ich von Elon Musk halte.
Schade.
Anderson: Wenn die letzten beiden Autos auf der Erde ein Tesla und ein Trabbi wären, und sie sagten: „Du kannst eins haben.“ Dann würde ich sagen: „Ich nehme den Trabbi.“ Obwohl ich Musks kommerziellen Mut, seine Hartnäckigkeit und sein Streben nach wissenschaftlicher Größe respektiere, ist es umso verabscheuungswürdiger, sich in die Welt der Politik einzumischen. Ist ihm nicht klar, was er da an Erbe wegwirft? Er ist wirklich auf Augenhöhe mit Putin, wenn es um Schikanen und Doppelzüngigkeit geht, und das ist einfach eine schreckliche Sache.
Welches Auto fahren Sie?
Anderson: Gar keins. Ich bin kein Autofahrer.
Und wie bewegen Sie sich fort?
Anderson: Am liebsten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich habe jemanden, der mich fährt, wenn ich gefahren werden muss. Aber normalerweise nur bis zum Bahnhof, von dort nehme ich dann einen Zug. Ich mag Züge. Sie kommen in zwei oder drei meiner Songs vor. Ich denke, ich bin ein Zug-Typ (lacht).
Für jemanden, der behauptet, einen Bogen um die Politik zu machen, gehen Sie im Stück „Dunsinane Hill“ ziemlich nah ran an einen innerparteilichen Konkurrenzkampf.
Anderson: In dem Lied geht es um Verrat und Betrug in der Politik. Es ist kein Urteil über das politische System, ich sage den Leuten nicht, wen sie wählen sollen. Umgekehrt würde ich niemals meiner Frau verraten, wen ich bei der letzten Wahl gewählt habe.
Will denn Ihre Frau gar nicht wissen, wo Sie Ihr Kreuzchen machen?
Anderson: Keine Ahnung. Ich selbst würde sie jedenfalls auch nicht fragen. Ich ahne es, aber ich weiß es nicht. Ich finde einfach, dass diese Dinge privat sind.
Donald Trump hat in den USA wieder die Präsidentschaft übernommen. Was denken Sie über sein Wirken?
Anderson: Wir leben in einer Demokratie, nicht gerade dem Vater der Demokratien, denn das ist Island, aber wir sollten stolz auf das gesamte demokratische System sein, und wir müssen es akzeptieren, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen. Wir haben das gesegnete Recht, unsere Stimme abzugeben und dieses winzige kleine Rädchen im System zu sein, also nutzen wir es. Letztes Mal hat Joe Biden gewonnen, und seine Präsidentschaft war eine große Enttäuschung. Jetzt kommt mit Donald Trump wieder ein Konservativer, oder wie immer man ihn nennen will, an die Macht, was sich wahrscheinlich als nicht minder furchtbar herausstellen wird. Die Demokratie lebt vom Wechsel. Nur in Mutter Russland wird der Führer bleiben, bis er seinen letzten Atemzug getan hat, und selbst dann wird es eine KI-Version von Putin geben, die wahrscheinlich noch weitere zwanzig Jahre regieren und es schaffen wird, die Welt davon zu überzeugen, dass er noch am Leben ist.
Hätten Sie persönlich Interesse am ewigen Leben?
Anderson: Ich hätte Lust, tausend Jahre zu leben, nur um herauszufinden, was als Nächstes passiert. Ich bin extrem neugierig, was passieren wird oder wie die Welt meiner Enkel oder Urenkel aussehen wird. Wenn ich noch zwanzig Jahre leben könnte und in den nächsten tausend Jahren jede Woche für zehn Minuten oder so zurückkommen könnte, das fände ich ideal. Einfach um zu gucken, was so ist. Vieles davon wird schlecht sein, aber vielleicht wird auch etwas Gutes dabei sein.
Das heißt, alles in allem ist selbst Ian Anderson ein Optimist.
Anderson: Ich habe einen Grad an Optimismus, der jeder Vernunft widerspricht. Ja. Ich bin grundsätzlich optimistisch, aber vorsichtig, sehr vorsichtig. Die nächsten paar Generationen werden Zeiten großer Veränderungen erleben. So wie ich in meiner Jugend. Die Sechziger waren eine Zeit der großen Verwerfungen und Revolutionen auf der ganzen Welt. Veränderungen in der Welt der Kultur und der Künste, riesige Entwicklungssprünge auf so gut wie jedem Gebiet. Auch wenn es gerade nicht immer so aussieht: Die Menschen sind freier und selbstbestimmter geworden. Rechte von Schwarzen, von Frauen, von Homosexuellen – sie alle sind gestärkt worden. Ich habe zu meinen Lebzeiten unvorstellbaren Fortschritt miterlebt. Nicht alle Entwicklungen waren gut, die meisten aber schon. Das macht mich insgesamt zuversichtlich für die nächsten hundert Jahre.
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/kultur_artikel,-kultur-ian-anderson-die-leute-lachen-mick-jagger-aus-_arid,2290760.html