"Scheherazade" ist die neueste, gewohnt kurzweilige und niveauvolle Ballettproduktion von Anna Vita am Mainfranken Theater Würzburg. Die tausendundeine Geschichten, die Scheherazade dem von seiner Frau betrogenen Sultan Schahraydâr erzählt, werden nicht einfach nur um weitere fantastische Kapitel über den Seefahrer Sindbad bereichert; die Choreographie fokussiert sich auf die Überzeugungskraft einer Frau, die einen tief gedemütigten, hasserfüllten Herrscher umzustimmen, Menschenleben zu retten und die bedrohte Welt ein klein wenig zu verbessern vermag. Ein raffiniertes Lichtdesign von Roger Vanoni mit durchsichtigen Gaze-Vorhängen (Bühnenbild Sandra Dehler) ermöglicht im zweiten Akt eine choreografische Verdichtung mit Umweltthemen, Flüchtlingsströmen und einer "Odyssee" im schwerelosen Weltraum mit ungewohnten Assoziationen zu Rimsky-Korssakows Repertoire-Klassiker "Scheherazade", dem das emotional nicht minder aufgeladene Violinkonzert "1001 Nights in a Harem" des 46-jährigen türkischen Komponisten Fazil Say zur Seite gestellt wurde.
Am Anfang stand die Untreue
Zum Auftakt des zweiaktigen Balletts greift Anna Vita zunächst die Rahmenhandlung des Sultans Schahraydâr (Mihael Belilov) auf, dessen erste Gemahlin (Camilla Matteuci) aufbegehrt, ihren Schleier ablegt, sich mit drei Sklaven (Leonam Santos, David Bessénz und Ioannis Mitrakis) vergnügt und ihren Gatten hintergeht. Dieser tötet sie und beschließt verbittert, jede Nacht eine neue Jungfrau zu ehelichen und bei Sonnenaufgang zu töten. Doch die kluge Scheherazade ((Kaori Morito) versucht mit Unterstützung von Dinarzade (Ran Takahashi), beides Töchter des Wesirs (Felipe Soares Cavalcante), den Sultan mit geheimnisvollen und spannenden Geschichten über Sindbads Erlebnisse aufzuheitern und umzustimmen.
Mit Erfolg, denn bei Tagesanbruch endet die Mordserie, weil der Sultan sich in der Rolle des Zuhörers gefällt und wissen will, wie es Sindbad (Aleksey Zagorulko) nach der Landung auf einer rätselhaften, von tänzerisch sehr begabten Muschelwesen bevölkerten Insel ergeht.
Mit Scheherazade fühlt er sich mitten im Geschehen und beide kämpfen gegen die zunehmende Verschmutzung des Naturparadieses, in das sich per Videoprojektion die Bühne mit Pflanzen, Wasserschildkröten und Fischen verwandelt hat. Der Sultan ist beeindruckt und wartet begierig auf die Erzählung von Sindbads Abenteuer in der Wüste Persiens. Sie treffen auf Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen und versuchen, ihnen mit Sindbad beizustehen.
Von Alpträumen geplagt, beginnt Scheherazade mit einer neuen Geschichte von Sindbad im Weltall, der von einer Rakete getroffen wird und stirbt. Seine ermordete Gemahlin erscheint dem Sultan im Traum. Scheherazade gibt ihm zu verstehen, dass er in Sindbads Fußstapfen treten möge. Dieser Aufforderung folgt der inzwischen friedfertige Sultan ohne Zögern. Inspiriert zu ihrer Aktualisierung der Handlung hat Anna Vita die Erzählung "Die tausendundzweite Nacht" von Edgar Ellen Poe, der dem staunenden Sultan aus der orientalischen Märchenwelt von den technischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts berichten lässt. Die Choreografie setzt sich treffend mit Scheherazade und ihrer Überzeugung auseinander, dass man nie der Tyrannei weichen soll, sondern ihr mit Mut und Menschenliebe begegnen kann. Bei aller Begeisterung für die auf das Schwarzlicht perfekt abgestimmten Kostüme, insbesondere von drei vogelähnlichen Wesen: Etwas zu lange schweben die Akteure durch die Lüfte.
Herausragend tanzen Camilla Matteuci und Felipe Soares Cavalcante ihre ausgefeilten Liebesszenen; schon zu Beginn stockt den Zuschauern der Atem, als die Tänzerin sich des Schleiers nebst überflüssiger Kleidung entledigt und sich mit einem furiosen Solo voller Vorfreude in Exstase tanzt.
Der Pas de deux mit dem stämmigen und doch großgewachsenen, mit geschmeidig-federnden Schritten ungemein dynamisch tanzenden Partner geriet zum Höhepunkt des Abends. Groß ist die Empörung des betrogenen Sultans und seine Gemahlin ahnt, dass es für sie kein Morgen mehr geben wird. Angesichts der makellosen Auftritte der Tänzer und ihrer unglaublich fantasiereichen Kostüme (Stephan Stanasic) mit wechselnden Rollen für Cara Hopkins, Kirsten Renee Marsh und Caroline Vandenberg kann die künstlerische Gesamtleistung der kleinen Würzburger Ballettkompagnie nicht hoch genug gelobt werden. Verblüffende Effekte zaubert ein Schattentanz des Sultans mit Sindbad auf die Bühnenleinwand und immer wieder animieren Lichtkreise, die wie Bälle auf- und niederschweben, die Tänzer zu neuen Schrittfolgen.
Poesievolle Klangbilder
Wer an der humanistischen Idee von dem zur Menschenliebe bekehrten Mörder wenig Gefallen findet, kann sich dafür an ausgefeilten Tanzszenen und poesievollen Klangbildern des Philharmonischen Orchesters erfreuen. Unter dem zupackenden Dirigat von Sebastian Beckedorf bewältigt es den oft sprunghaften Wechsel von innig-liedhaften oder aufbrausenden Themen mit berückend-schönen oder verstörenden Rhythmen scheinbar spielend leicht. Besonders fulminant lässt Franz Peter Fischer (Solovioline) nicht nur in einer Kadenz zur Erzählung der geduldigen Scheherazade aufhorchen. Wirkungsvoll in den Vordergrund spielt sich zudem Oliver Schwab als neuer Schlagzeuger .
Lebhafter Beifall nebst Bravorufen belohnte alle Mitwirkenden; beim Auftritt von Anna Vita hielt es das Premierenpublikum nicht mehr auf den Sitzen. Das Mainfranken Theater wartet mit einer Uraufführung in der Ballettsparte und einem überzeugenden Philharmonischen Orchester mit dem ersten Publikumsrenner des Jahres auf. ferö
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