Berlin. Seit einem Vierteljahrhundert ist die Hamburger Formation Deichkind mit Electropunk, Hip-Hop, heiligem Blödsinn, legendären Liveshows und Songtiteln zum Eintätowieren unterwegs. Ihr neues Album heißt: „Neues vom Dauerzustand“. Wir treffen uns mit Porky (Sebastian Dürre, 45), Kryptik Joe (Philipp Grütering, 48), La Perla (Henning Besser, 43) in Berlin in einem luftigen Raum mit Blick auf die Spree.
Der Begriff „Dauerzustand“ hat keinen sonderlich guten Ruf. Oft heißt es, irgendetwas dürfe kein Dauerzustand werden. Wollt ihr diese negative Zuschreibung mit „Neues vom Dauerzustand“ umdrehen?
Porky: Dauerzustand kann allerdings auch bedeuten: „Wir sind immer noch die Geilsten“. Aber es ist wahr, gute Dauerzustände sind selten. Selbst eine durchgängige Erregung wird dich irgendwann quälen.
La Perla: Ich finde den Titel sehr ehrlich. Dauerzustand steht für etwas Zermürbendes. Und zermürbend waren die letzten drei Jahre ohne Zweifel.
Kryptik Joe: Wir sind als Jugendliche mal angetreten, um die Welt, zumindest aber ein paar Dinge um uns herum, zu verändern. Und nicht, um im Dauerzustand zu verweilen. Von daher ist der Titel schon auch ein bisschen zynisch.
Wieso zynisch?
Kryptik Joe: Naja, früher hast du gedacht „Ich will die krassesten Sachen machen“. Dann bist du Ende 40, ein Kapuzenpulli tragender Berufsjugendlicher und bringst dein achtes Album raus. Dann zu sagen, „Es ändert sich nichts“ oder „Es soll sich auch gar nichts ändern“, das hat eine zumindest leicht zynische Note.
Das Älterwerden ist ein Thema auf der neuen Platte. Die brandneue Single „Kids in meinem Alter“ etwa ist ein liebevoll sarkastischer Blick auf die vermeintlichen Alles-Durchblicker eurer Generation.
Heute wollen alle, egal, wie alt sie sind, bei den Jungen mitmischen - getrieben von der Angst, dass der Tod anklopft
La Perla: Dieses ganze Jugendding ist ein Riesenthema, aber ich interessiere mich nicht dafür. Man kann ja doch nichts dran ändern. Früher war man froh, wenn man alt ist. Es gab Altgesellen und Tische im Betrieb, an denen nur Senioren saßen. Und an der Uni hatte man noch Ehrfurcht vor dem ehrenwerten Herrn Professor. Das hat sich alles komplett umgedreht. Heute wollen alle, egal, wie alt sie sind, bei den Jungen mitmischen - getrieben von der Angst, dass der Tod anklopft.
Das Älterwerden ist also eine wünschenswerte Angelegenheit?
La Perla: Ich freue mich, dass ich nicht mehr jung bin. Ich will auch nicht mehr jung sein. Viele Komplexe, die ich als junger Mensch hatte, haben sich relativiert. Ich denke, alles hat seine Zeit. Es war geil, jung zu sein, und es ist geil, nicht mehr jung zu sein.
Kryptik Joe: Eine Supergaudi war es, diese Liste mit all den peinlichen Verhaltensweisen unserer Generation zusammenzuschreiben.
„Hören CDs in Cafés“, „suchen nach atemberaubenden Gartenlauben“, „denken, es ist Hanf, aber es ist Bambus“…
Kryptik Joe: Genau. Der Song ist entstanden während einer Schreibreise in einem veganen Hostel in der Sächsischen Schweiz. Nachts sind wir durch die wilden, sächsischen Wälder gestreift. Morgens gab es ein fantastisches Ayurveda-Frühstück, zubereitet von einem wunderschönen jungen Barfuß-Engel mit freiem Oberkörper, der aussah wie Jesus.
Porky: Dieses Hostel war voll der Schwurbler-Laden. Wusstet ihr, dass alle Schwurbler solche abgemagerten Knäckebrot-Typen sind? Außer Donald Trump.
Jemand wie Putin setzt lieber die Welt in Brand als seine Macht loszulassen
Richtet sich „Wutboy“ gegen die Trumps und Putins dieser Welt?
Porky: Das ist ein Lied gegen all die bösen, toxischen Männer da draußen. Diese Leute können nicht loslassen. Trump kann nicht akzeptieren, dass sein Leben endlich ist, und jemand wie Putin setzt lieber die Welt in Brand als seine Macht loszulassen.
Aber zurück zu „Kids in meinem Alter“. Könnt ihr selbst denn loslassen, die Jugend beispielsweise?
Kryptik Joe: Es ist nicht so, dass ich darunter leide, älter zu werden. Unsere Lebensrealität verändert es, und es wäre irgendwann sehr anstrengend, würden wir eine Rolle von uns selbst spielen, so wie wir vor 15 oder 20 Jahren waren. Wir gucken lieber, dass der Blick, den wir auf die Gesellschaft haben und den wir mit den Menschen teilen, ein zeit- und altersgemäßer ist. Dass wir die Nachwachsenden nicht immer erreichen mit unserem Blick, das müssen wir hinnehmen. Trotzdem freuen wir uns, wenn die Jugend unsere Sicht auf die Welt teilt.
Deichkind
- „Bon Voyage“ vom Debütalbum „Bitte ziehen Sie durch“ (2020) brachte den Durchbruch für die Hamburger Band Deichkind, die vor allem für ihre Liveauftritte bekannt ist - stets kollektive Riesenpartys in technischer Perfektion.
- Charakteristisch ist ihr Blick auf den Zeitgeist und ihr Talent, diesen mit feinem Witz zu sezieren. Ebenso der an Elektro angelehnte Hip-Hop-Sound.
- „Neues vom Dauerzustand“ ist das achte Album von Deichkind, gerade erschienen bei Universal Music als CD (20 Euro) und auf Vinyl (37 Euro).
- Im Sommer gehen Deichkind auf Tour - Auftritte sind in Deutschland, Österreich und der Schweiz geplant. Zu erleben ist das Dreigestirn dann auch in Frankfurt (8. Juli) und Stuttgart (4. August).
La Perla: Mit jedem Album müssen wir unsere Rolle neu finden und justieren. Wir sind notorische Zweifler, aber zumindest wissen wir, dass wir nicht dafür da sind, mit unseren Singles die Charts zu stürmen oder sowas wie „Haus am See“, Teil 2, zu schreiben. Die Pop-Hits sollen die anderen machen. Uns gelingt das sowieso nicht so gut. Deichkind steht für eine gewisse Weirdness, für das Andere. Wir machen die Songs, über die sich die Leute noch Jahre später einen Ast freuen.
Und statt „Remmidemmi“ heißt es bei euch jetzt „Fete verpennt“.
Kryptik Joe: An dem Song habe ich ewig rumgeschrieben, wieder verworfen, neu geschrieben. Einen richtigen roten Faden hat der nicht, aber manchmal reicht es auch, wenn ein Song einfach nur Spaß macht. Wenn man möchte, kann man ihn so interpretieren, dass Leute, die einen „Fuck you, Greta“-Sticker auf dem Auto haben, die Fete sehr gründlich verpennt haben.
Ich selbst bin schon seit Jahren gar nicht mehr auf der Bühne, das hat nur keiner gemerkt
Spätestens bei euren grellen Liveshows ist das Alter sowieso egal. Auf der Bühne seid ihr ein bisschen wie Kiss, oder wie seht ihr das?
La Perla: Das sehen wir auch so. Wir haben immer schon darauf geachtet, dass der Einzelne bei der Vermarktung von Deichkind nicht so sehr im Vordergrund steht. Ich selbst bin schon seit Jahren gar nicht mehr auf der Bühne, das hat nur keiner gemerkt. Wenn in Zukunft jemand von uns nicht mehr will oder kann, wird einfach ein neuer Darsteller angelernt, das hat was von den Harlem Globetrotters.
Wenn wir keinen mehr interessieren sollten, wollen wir uns nicht aufdrängen, aber nach diesem Prinzip könnte Deichkind sogar irgendwann ohne uns weiterexistieren. Es geht nicht um den Einzelnen, es geht um die Idee und um die Inhalte.
Ist „Neues vom Dauerzustand“ ein ernsteres Album als von euch gewohnt?
Kryptik Joe: Ja. Es ist ja auch eine ernstere Zeit als sonst.
La Perla: Die Zeiten sind ernster, und man muss sich dazu verhalten. Ob das Ergebnis insgesamt ernster geworden ist, weiß ich nicht. Manche Songs sind es auf jeden Fall.
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