„Eugen Onegin“ ist die meistgespielte Oper von Peter Tschaikowski, die das Mainfranken Theater Würzburg in russischer Sprache mit deutschen Übertiteln in der Theaterfabrik Blaue Halle zur Aufführung brachte.
Angeregt von dem gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin schrieb Konstantin Schilowski das Libretto nach einem Entwurf von Tschaikowski. Enrico Calesso ließ am Pult mit dem Philharmonischen Orchester viel von dem unbeschreiblichen Vergnügen und Enthusiasmus des Komponisten an diesem Stoff durchklingen, den der Komponist bei der Entstehung gehabt haben soll. Tschaikowski wird mitten in dem viel beschworenen kreativen „Flow“ gewesen sein, denn 1877 schrieb er gleichzeitig an seiner 4. Symphonie, die an Gestaltungsreichtum und Tiefe alle bisher komponierten Werke übertraf.
Pro Kunst und Ukraine
Während es andernorts wegen des russischen Angriffskrieges zu Programmänderungen in Konzerten kam, und etwa in der polnischen Stadt Bydgoszcz (Bromberg) Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“ abgesagt wurde, ließen sich Würzburg und auch die Staatsoper Hannover nicht beirren. Tschaikowski weilte oft in der Ukraine und integrierte populäre ukrainische Volkslieder in seine Werke. Am Würzburger Premierenabend gab es ein unmissverständliches Statement, als das Ensemble eine Ukraine-Flagge über der gesamten Bühnenbreite entrollte. Je näher der Zuhörer am Bühnengeschehen war und unmittelbar hinter dem flachen Orchestergraben von der lyrisch-zarten bis dramatisch-rauschhaften Musik emotional überwältigt wurde, umso stärker entfalteten die „lyrischen Szenen in drei Akten“ ihre soghafte Wirkung. Vor der Bezeichnung „Oper“ hatte Tschaikowski Skrupel, weil für ihn bei der Dramatisierung des Gedichts von Puschkin weniger die Handlung, sondern die musikalische Ausarbeitung der unfassbar poetischen Kraft des Stoffes im Vordergrund stand.
Überschaubare Handlung
Der Plot ist einfach erzählt: Die ländliche Gutsbesitzerin Larina (Barbara Schöller) hat mit der verträumten Tatjana (Silke Evers) und der lebenslustigen Olga (Marzia Marzo) zwei Töchter, wie sie nicht unterschiedlicher hätten sein können. Die junge Tatjana hält noch immer engen Kontakt zur Kinderfrau Njanja (Elisabeth Mertens). Der feurige, noch unerfahrene Nachbar Lenski (Roberto Ortiz) verehrt Olga heiß und innig, während sich Tatjana unsterblich in Eugen Onegin (Hinrich Horn), einen städtischen Lebemann, verliebt. Ein schwärmerischer Liebesbrief von ihr führt zu einer bitteren Abfuhr durch den kühlen und intellektuell gelangweilten Onegin.
Nach einem Fest kommt es später zu einem Pistolenduell zwischen Onegin und seinem Freund Lenski, weil Onegin die verzweifelte Tatjana nicht beachtet und stattdessen ein Auge auf die vergnügte Olga geworfen hat. Lenski findet dabei den Tod. Nach einer mehrjährigen Reise kehrt der innerlich aufgewühlte Onegin zurück und bereut seine Kaltherzigkeit. Denn plötzlich ist er es, der in Liebe zu Tatjana entflammt ist. Diese hat inzwischen den älteren Fürsten Gremin (Igor Tsarkow) geheiratet. Zwischen Liebe und Pflicht hin- und hergerissen, verzichtet Tatjana auf ihre große Liebe.
Ensemble in Höchstform
Einen Coup landete das Würzburger Theater mit der Verpflichtung von Agnessa Nefjodow als Regisseurin, die mit Bühnenbildner Volker Thiele und Kostümbildnerin Nicole von Graevenitz ausdrucksstarke Bilder für die Innen- und Außenwelt fand. Die Inszenierung vermochte die ganz großen Gefühle der Musik in die entsprechende Körpersprache zu übersetzen. Ein hell beleuchteter Guckkasten war mittig im Bühnenhintergrund platziert und offenbarte die durch Kränkungen verletzten Seelen, die dem oberflächlichen Treiben davor verborgen blieben.
Die sparsame Möblierung der breiten Bühne in der Ausweichspielstätte ließ eine geschickte Einbindung von Chor und Extrachor zu; deren perfekte Einstudierung hatte Sören Eckhoff übernommen. Die Chöre und die Protagonisten ließ die Regie kongruent zum Text und zur Musik mal überbordend emotional, mal abgrundtief verzweifelt agieren.
Glänzende Rollenebüts
Sängerisch wie darstellerisch gelang Sopranistin Silke Evers als Tatjana ein emotional einnehmendes Rollendebüt als Tatjana. Ihre Briefarie geriet zu einem kleinen Drama in sich.
Auch die weiteren Hauptrollen waren Debüts; für den Bariton Hinrich Horn als Onegin mit einer flexiblen, angenehm abgedunkelten Stimme, für den Tenor Roberto Ortiz mit lyrischem Schmelz, Marzia Marzo als Olga mit einem angenehm warmen Timbre und Igor Tsarvov als Fürst Gremin mit seinem tiefen Bass.
Beeindrucken konnten die sorgfältigen Charakterstudien, in die sich noch Mezzosopranistin Barbara Schöller als warmherzige Gutsbesitzerin und Mutter Larina, Elisabeth Mertens als erfahrene Kinderfrau aus alten Zeiten, Taiyu Uchiyama als Hauptmann und Sekundant, sowie Ivan Dantschev als Vorsänger einreihten.
GMD Enrico Calesso brachte mit seinen Philharmonikern das Kunststück fertig, die lyrischen und leidenschaftlichen Momente dieser an Klangfarben kaum zu übertreffenden Partitur gleichwertig einzufangen, ohne die Solisten in den Hintergrund treten zu lassen.
Leidensfähige Seele
Regisseurin Agnessa Nefjodov faszinierte die Frage, was stärker ist: Die Gefühle oder das, was wir dabei erleben? Nach ihrer Interpretation der Oper sind beide Seiten nicht in Übereinstimmung zu bringen. Die Emotionen behalten die Oberhand, ohne jedoch in der realen Welt zum Liebesglück zu verhelfen. Tatjana ist in einer Vernunftehe gelandet. Ähnlich ging es Tschaikowski in seinem künstlerisch kreativen Krisenjahr 1877, als er der Werbung einer dann unglücklichen Schülerin nachgab und eine Scheinheirat einging, um seine homosexuellen Neigungen verbergen zu können. Seine Oper verrät viel von einer leidensfähigen Seele, die nur im Leiden ihren Schmerz und ihre unermessliche Trauer zu überwinden glaubt, um auf ein spätes – dann nie mehr eintreffendes – Glück hoffen zu können. Vielleicht haben sich aber Tatjana und Onegin nur zur falschen Zeit am falschen Ort getroffen. Es lohnt sich unbedingt, diese anregende und opulente Operninszenierung in Würzburg noch vor dem Ende der Spielzeit zu buchen. ferö
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