Gesellschaft - Verein startet neues Willkommens-Konzept / Start-up lässt von Flüchtlingsfamilie wiederverwertbare Obstbeutel nähen

Integrationsarbeit - ein stetiger Prozess

Von 
Katharina Buchholz
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Walter Hörnig investiert viele Stunden pro Woche mit dem Verein "Willkommen in Wertheim". Neustes Projekt sind wiederverwertbare Gemüsebeutel, dievon einer Flüchtlingsfamilie aus der Main-Tauber-Stadt genäht werden sollen.

© Gabel

Wertheim. Der erste Harry-Potter-Band "Harry Potter und der Stein der Weisen" ist 335 Seiten dick. Der kleine Ferry (Name geändert) hat das Buch gelesen - auf Deutsch. Der Grundschüler und seine Eltern leben seit zwei Jahren in Deutschland. Vor einem dreiviertel Jahr ist die afghanische Familie aus der Bad Mergentheimer Gemeinschaftsunterkunft zur Anschlussunterbringung nach Wertheim gezogen. Der Vater arbeitet sozialversicherungspflichtig als Servicekraft. Ferry kickt beim FC Eichel. Die Mutter erwartet ihr zweites Kind.

Rund 100 Mitglieder

Für Walter Hörnig, einer der Vorsitzenden des Vereins "Willkommen in Wertheim" (WiW), ist die junge Familie eines der Musterbeispiele dafür, dass sich die Arbeit des Vereines auszahlt, dass Integration gelingen kann. Vor gut acht Monaten hat sich WiW als Verein gegründet, der Freundeskreis ist bereits seit Oktober 2014 aktiv. Das Thema Erstaufnahme (EA) hatten die Ehrenamtlichen damals nicht auf der Agenda, vielmehr bereiteten sie sich auf eine Gemeinschaftsunterkunft vor.

Entsprechend groß war der Ärger, als plötzlich alles anders kam. Heute hat sich das Engagement eingespielt: Die rund 100 Mitglieder sind sowohl als Ehrenamtliche in der EA, als auch als Paten für Anerkannte und Asylbewerber in der Anschlussunterbringung aktiv. "Das Engagement unserer Mitglieder ist unglaublich", stellt Walter Hörnig zufrieden fest. Er sitzt an einem Besprechungstisch in den Vereinsräumen im Haus der Jugend und Vereine. Die Wand hinter ihm ziert das Logo des Vereins: offene Hände unter der Silhouette der Stadt.

Wieder einmal stehen dem Verein große Veränderungen ins Haus, über die bei der Hauptversammlung am Donnerstag gesprochen werden muss. Denn: Die Zahl derer, die langfristig nach Wertheim kommen, steigt: Geschätzt 100 Personen - Asylbewerber und Anerkannte - könnten es in diesem Jahr sein. Das sind zu viele Menschen für die rund 20 Flüchtlingspaten, die bisher Einzelpersonen und Familien über Monate in den Alltag begleiten.

"Künftig wird es eine Art Partnerschaftskomitee geben, das die Asylbewerber über drei Wochen begleitet, anschließend stehen wir zweimal pro Woche in unseren Räumen zur Verfügung. Ein Termin soll sich der Beratung der Flüchtlinge widmen. Der zweite soll Bürgern und Geflüchteten die Möglichkeit geben, miteinander ins Gespräch zu kommen", erklärt Hörnig das neue Konzept. Dieses stützt sich auch darauf, dass der Verein ab Mitte März einen hauptamtlichen Mitarbeiter beschäftigen wird. Der ehemalige Langzeitarbeitslose spricht neben Deutsch auch Arabisch. "Er hat im weitesten Sinne Flüchtlingshintergrund und lebt seit Jahren in Deutschland. Er kennt unsere Mentalität und die der Flüchtlinge." Angestellt wird der Hauptamtliche über ein Projekt der Arbeitsagentur. In zunächst 15 Stunden pro Woche wird der Mann vor allem mit organisatorischen Aufgaben rund um die Beratung betraut sein. Mittelfristig soll die Präsenzzeit auf 30 Stunden verlängert und weitere zwei Personen eingestellt werden, die dann vor allem in der Begegnungsstätte eingesetzt würden.

Projekt mit der Arbeitsagentur

"Das Projekt ist zunächst auf drei Jahre ausgelegt. Finanziert wird der Mitarbeiter durch das Arbeitsamt", sagt Hörnig, der sich insgesamt intensivere Unterstützung durch den Staat wünscht. Etwa durch mehr hauptamtliche Integrationshelfer. Hier seien der Landkreis und die Landesregierung in der Pflicht.

Den Bedarf des Nachbesserns sieht Hörnig auch in der Art, wie Stellen ausgeschrieben werden. Ein Hochschulabschluss in Sozialpädagogik oder Ähnlichem sei ein Einstellungskriterium, an dem viele scheitern, die für den Job geeignet wären. "Das reduziert die Chance, Menschen zu finden." Hörnig kennt viele, die eine solche Aufgabe als Quereinsteiger übernehmen würden. Vor Veränderungen steht auch der Sprachunterricht, den die Ehrenamtlichen um Rainer Lotz in der EA anbieten. "Der Zeitrahmen, in denen die Asylbewerber in der EA sind, verkürzt sich radikal. Deshalb werden wir hier strukturell etwas verändern. Außerdem wollen wir das Angebot für die, die hier wohnen, in unserem Vereinsheim fortsetzen."

Derweil erlebt das neue Willkommens-Konzept des Vereins in diesen Tagen in Bettingen seine Feuerprobe. Acht anerkannte Flüchtlinge aus Syrien haben vor einer Woche die Flüchtlings-WG im Rathaus bezogen. "Wir gehen mit den Männern in die Stadt, ins Rathaus, zum Arzt. Wir helfen ihnen beim Papierkram, organisieren Dinge, die noch nicht laufen. In den ersten Wochen ist die Betreuung sehr intensiv", beschreibt Hörnig. Er sieht im neuen Konzept auch Vorteile: Das Zeitfenster der Betreuung lässt sich für die Paten so leichter einschätzen. Am Ziel hat sich indes nichts verändert: "Wir wollen die Menschen schnell in die Selbstständigkeit führen. Dazu gehört eine Arbeit", sagt Hörnig. Drei Wertheimer Firmen haben Flüchtlinge eingestellt, ein viertes Unternehmen hat einen Kandidaten zum Probearbeiten eingeladen.

Und dann gibt es da noch ein neues Projekt: Zwei junge Unternehmer, die ihre Wurzeln in Wertheim haben, setzen auf die Mitarbeit einer Flüchtlingsfamilie aus der Main-Tauber-Stadt. Für das Start-up "Fair Green" sollen die gelernten Schneider wiederverwertbare Obstbeutel für Biomärkte nähen. Die ersten Muster "Made in Wertheim" sind schon fertig.

Die Einsatzgebiete der Ehrenamtlichen von "Willkommen in Wertheim"

  • In der Erstaufnahmeeinrichtung (EA) bringen sich die Ehrenamtlichen im Kleiderlager, bei Sprachkursen und in Kooperation mit dem FC Eichel in der Integration durch Fußballtraining ein. Ab sofort gestaltet das Wertheimer Vereinsnetzwerk Sport einmal pro Woche eine Einheit "Sport mit Flüchtlingskindern." Daneben organisieren Einzelne immer wieder Dinge wie Wanderungen oder die Kuscheldecken-Aktion.
  • Neu im Bereich EA ist das Begegnungscafé in der ehemaligen Kantine der Polizei, das zunächst zweimal pro Woche, dienstags und freitags, jeweils von 14 bis 17 Uhr geöffnet hat. Künftig soll auch ein Frühstückscafé für Frauen angeboten werden.
  • Das Kleiderlager in der Johannes-Rau-Straße 14 nimmt immer dienstags, donnerstags, freitags und samstags von 8 bis 13 Uhr Kleiderspenden entgegen. Aktuell wird auch Schwangerschaftskleidung gebraucht. Immer gefragt ist Männerbekleidung in den Größen S und M. Das Lager wird von Tatjana Sawitzki koordiniert.
  • Weitere Großbaustelle des Vereins ist die Betreuung der Asylbewerber in der Anschlussunterbringung und nach der Anerkennung. Die Hilfe reicht von der Begleitung beim Arztbesuch bis zur Vermittlung eines Kindergartenplatzes.
  • Die Vereinsmitglieder helfen ihren Schützlingen dabei, schnell eine eigene Wohnung zu finden. Bei dieser Aufgabe wird der Verein künftig durch die Stadt Wertheim unterstützt.
  • Neu ist das WiW-Möbellager in der Ferdinand-Hotz-Straße 3. Nach Rücksprache mit Möbellager-Verwalter Viorel Nechitoi (per E-Mail und mit Foto der Möbel an voirel.nechitoi@gmail.de) können dort gut erhaltene Möbel gespendet werden. Die Möbel können von Flüchtlingen gegen einen Obolus erworben werden. Der Erlös kommt der Vereinsarbeit zugute.
  • Neben den festen Arbeitsfeldern des Vereins unterstützt WiW weitere Aktionen zugunsten von Flüchtlingen und Asylbewerbern. Wer sich im Verein engagieren möchte, kann sich bei der Hauptversammlung am Donnerstag, 10. März, um 19 Uhr im Beruflichen Schulzentrum Bestenheid informieren. kag

Redaktion Im Einsatz für die Lokalausgabe Wertheim

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