Stand der Einheit

Steinmeier: «Nicht zulassen, dass Demokratie Schaden nimmt»

Kurz vor dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober ist die Stimmung alles andere als ausgelassen. Das weiß auch der Bundespräsident. Und bittet die Bürger, einmal innezuhalten.

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dpa
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Berlin. 35 Jahre nach der Deutschen Einheit hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier alle in Ost und West aufgefordert, sich schützend vor die Demokratie zu stellen. Er sehe mit Sorge, dass «die politische Mitte nicht nur, aber mehr noch im Osten unseres Landes immer weniger Rückhalt hat», sagte das Staatsoberhaupt in Berlin. «Lassen wir nicht zu, dass unsere Demokratie noch weiteren Schaden nimmt. Halten wir dagegen.»

Während bei der Vereinigung vor 35 Jahren ausgelassene Stimmung geherrscht habe, hätten viele heute Sorgen. «Aber sollten wir heute, anlässlich von 35 Jahren Deutscher Einheit, nicht einmal innehalten und uns vor Augen führen, was uns gelungen ist in diesen 35 Jahren?», fragte Steinmeier. Das vereinigte Deutschland sei stark und ein geachteter Partner in der Welt.

Auch die Ostbeauftragte Elisabeth Kaiser betonte, es sei keine Selbstverständlichkeit, dass man heute in einem wiedervereinigten, friedlichen und demokratischen Land lebe. «Gerade in diesen Zeiten dürfen wir das nicht vergessen», sagte die SPD-Politikerin bei der Vorstellung ihres Jahresberichts.

Die Ostbeauftragte Elisabeth Kaiser hat ihren ersten Jahresbericht vorgestellt. © Carsten Koall

Schlechte Stimmung

Am 3. Oktober 1990 hatten sich die Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik nach Regeln des westdeutschen Grundgesetzes vereinigt - rund ein Jahr nach der friedlichen Revolution in der DDR. Neue Umfragen zeigen jedoch, dass das Gefühl der Zusammengehörigkeit eher abnimmt.

So sagten bundesweit 30 Prozent in einer repräsentativen YouGov-Umfrage unter gut 2.000 Menschen, dass Ost- und Westdeutsche mehr trennt als eint. Nur 16 Prozent glauben, dass Gemeinsamkeiten überwiegen. 40 Prozent denken demnach, dass sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede die Waage halten, 13 Prozent sind in dieser Frage unentschlossen.

Von den befragten Ostdeutschen sagten YouGov zufolge sogar 43 Prozent, dass Ost- und Westdeutsche mehr trennt als eint. Nur 11 Prozent meinen, dass die Gemeinsamkeiten überwiegen. Zum Vergleich: 2019 glaubten laut YouGov 34 Prozent der Ostdeutschen, dass Unterschiede überwiegen – heute sind es 9 Prozentpunkte mehr. 

«Verkrustete Vermögensverhältnisse»

Kaiser sieht als Grund auch Unterschiede bei den Lebensbedingungen - unter anderem bei Vermögen, Löhnen und Mitsprache in Führungsetagen. Die SPD-Politikerin warb im Interview der Deutschen Presse-Agentur für eine Umverteilung von Vermögen - sei es über Vermögens- und Erbschaftssteuer oder neue Ansätze wie ein «Grunderbe» - also eine Art staatlich finanziertes Startkapital - oder die geplante Frühstartrente. Das ist gedacht als Sparplan mit staatlicher Hilfe von Kindheit an. 

«35 Jahre nach der Deutschen Einheit haben wir immer noch verkrustete Vermögensverhältnisse in Deutschland», sagte Kaiser der dpa. Deshalb gehe es um die Frage: «Wie können wir Vermögensgleichwertigkeit hinbekommen?»

Von heute auf morgen alles anders

In ihren Jahresbericht hat sie Beiträge jüngerer Autoren aus Ost und West aufgenommen. Zentrale Erkenntnisse: Junge Ostdeutsche sind auch von Umbrucherfahrungen ihrer Eltern geprägt. Es gebe bei ihnen das Bewusstsein, «dass sich von heute auf morgen alles ändern kann», sagte Kaiser, die selbst zwei Jahre vor der friedlichen Revolution in der DDR geboren wurde. 

In dem Bericht kommen junge Autoren zu Wort, die nach der Vereinigung aufgewachsen sind. © Carsten Koall

Teil des Berichts ist auch die Studie «Deutschlandmonitor», eine umfangreiche Befragung zur Veränderungsbereitschaft in Deutschland. Wichtigstes Ergebnis: Man könne nicht davon sprechen, «dass es eine breite Veränderungsmüdigkeit in diesem Land geben würde», sagte Studienautor Reinhard Pollack. Er sieht dabei geringe Unterschiede in Ost und West. Allerdings sagte er auch: Wer bessere Bildung und mehr Geld habe, sei meist offener für Veränderungen.

Ostdeutschland hat nicht gleichgezogen

Eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt, dass die ostdeutschen Länder im Vergleich zu 1990 enorm aufgeholt haben - aber eben nicht gleichgezogen. So liegt die Produktivität in Ostdeutschland heute bei etwa 90 Prozent des Westniveaus, wie es im DIW-Bericht heißt. Wirtschaftlich erreichen die ostdeutschen Länder das Niveau finanzschwacher westdeutsche Länder wie etwa des Saarlands. 

Die Trennlinie verlaufe also weniger zwischen Ost und West als zwischen finanzschwachen und finanzstarken Regionen sowie zwischen Stadt und Land, schließen die Wirtschaftsforscher. Schwierigkeiten sehen sie in der Demografie: Seit der Einheit haben die ostdeutschen Länder demnach zwei Millionen Menschen durch Abwanderung verloren.

Elisabeth Kaiser wurde kurz vor der Vereinigung in Ostdeutschland geboren. © Carsten Koall

Zukunftszentrum soll helfen

Kaiser sagte der dpa, um die Stimmung zwischen Ost und West zu verbessern, sei es wichtig, die Perspektive des anderen zu kennen und ins Gespräch zu kommen. Ein Ort dafür werde das Zukunftszentrum in Halle an der Saale. Das geplante Gebäude wird zwar sicher erst in einigen Jahren fertig. In provisorischen Räumen soll aber bereits Programm gemacht werden. «Das soll nächstes Jahr wirklich noch an Fahrt gewinnen», sagte Kaiser.

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