Erzähl mir was

"Das Haus" von Volker Sebold

Von 
Volker Sebold
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Mannheim. Beim langen Wochenende im Haus des Mannheimer Verlegers Ulrich Wellhöfer treffen die Erstplatzierten des Schreibwettbewerbs "Erzähl mir was" aufeinander - und erfinden Geschichten über "Das Haus", in dem sie drei Tage wohnen.

"Das Haus" (von Volker Sebold)

Es klingelte.

Einmal. Zweimal. Dreimal. Laut und penetrant bohrte sich das Läuten in die Gehörgänge. Sein Blick wanderte an die Wand. Die Risse im Putz ließen ihn an sein verpfuschtes Leben denken.

Es klingelte.

Immer noch. Wie ein Tinnitus setzte sich das Geräusch im Gehirn fest. Zeitlupenartig schälte er sich aus dem Bett. Schlüpfte in seine Pantoffeln und ging den Flur vor zur Treppe. Die hölzernen Stiegen ächzten unter seinem Gewicht. Das Schellen hatte plötzlich aufgehört. Er hielt inne. Lauschte. Ruhe. Er wollte sich schon umdrehen, als er den Impuls der Neugierde folgend doch die Tür öffnete.

Zwei Frauen lächelten ihn an. Ein falsches Lächeln, dass ihn die Augenbrauen skeptisch zusammenziehen ließ. Er schämte sich unvermittelt für sein Aussehen. Für sein ungepflegtes Äußeres. Die fetten Haare, die ihm an der Stirn klebten. Der Geruch, der selbst ihm unangenehm in die Nase stieg. Dass er in seinem fleckigen Pyjama unter dem Türrahmen stand, fiel ihm nicht einmal mehr auf.

„Das ist unser Haus, Petit Pierre!“ säuselte die Rothaarige, während die Ältere durch ihre Brille gelangweilt an ihm vorbei in den Hausflur blickte.

„Pierre?“, dachte er, „wer verdammt ist Pierre?“

Ein Schweißtropfen fand seine Bahn von der Stirn zur Wange. Er zitterte, obwohl es draußen bestimmt schon 20 Grad Celsius hatte. Seine Augen sahen durch die beiden Frauen hindurch, als wären sie aus Glas. Unvermittelt und mit einem festen Ruck schlug er die Tür zu.

Er rannte die Treppe nach oben. Stolperte. Fing sich ab. Stand heftig keuchend im Schlafzimmer und sah im Spiegel eine erbärmlich aussehende Gestalt.

„Wer waren diese Frauen? Und wer verdammt ist Pierre?“

Er hetzte hinunter. Riss die Haustür auf. Sie waren nicht mehr da. Erleichtert wanderten seine Augen in beide Richtungen. Leere. Nur ein Auto fuhr gelangweilt am Grundstück vorbei. Er schüttelte den Kopf und entließ die Fragen aus seinem Gedankenlabyrinth.

Eine Woche später schreckte er nachts in seinem Bett hoch. Das Geräusch gesplitterten Glases hallte in seinem Kopf nach. Instinktiv tappte er schlaftrunken nach unten. Das Licht wies ihm den Weg ins Billardzimmer. Tatsächlich: In der Fensterscheibe war ein faustgroßes Loch. Doch draußen war es windstill. Dann sah er den Stein. Er lag wie eine Billardkugel auf dem Grün des Tisches. Der Brocken war umhüllt von einem Zettel: DAS IST UNSER HAUS!

Schwer atmend stützte er sich an dem alten Globus ab, in dessen Inneren schon lange kein Whisky mehr auf einen Trinker wartete.

Voller Adrenalin wankte er in die Küche. Trank Wasser aus der Leitung. Versuchte seine Angst wegzuwaschen. Er zwang sich, seinen wirren Gedanken wieder eine Richtung zu geben. Sein Blick glitt durchs Fenster hinaus, in den Hinterhof, hinüber zur alten Scheune.

„Was war das?“ Schatten, die sich bewegten. Er spürte einen schmerzhaften Stich im Lendenbereich. Rieb sich die Augen. Doch da war nur noch Stille und Dunkelheit.

Er hatte die Nacht kein Auge zugetan. Am frühen Morgen rief er völlig übermüdet und mit belegter Stimme Nicolas Zielinger an, den Dorfgendarm. Sie kannten sich aus gemeinsamer Schulzeit. Tatsächlich stand der Polizist eine Stunde später im Billardzimmer. Mit bedeutungsvoller Miene wog er den Stein in der Hand. Ließ den Zettel mit einer Pinzette in einen Plastikbeutel verschwinden, um dann den Brocken in die Aktentasche zu legen.

„Zwei Frauen, sagst Du? Ich halte meine Augen und Ohren offen. Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.“ Der Beamte zuckte mit den Achseln.

„Au revoir.“

In einer der folgenden Nächte drangen wieder nervtötende Geräusche in sein schläfriges Bewusstsein. Kerzengerade und mit weit aufgerissenen Augen saß er im Bett. Er bildete sich das nicht ein. Ein Scheppern und ein Klirren. Er hielt sich die Ohren zu. Als er die Hände wegnahm, drang der Lärm unmittelbar in seinen Sinn. Er kniff die Augen zusammen, stand stöhnend auf und schlich barfuß die Treppe hinab. Vorsichtig, um ein Knarzen zu vermeiden. Er öffnete die Holztür, deren Scharniere er vor Kurzem geölt hatte. Er lugte die steilen Stufen zum Keller hinab. Er knipste den Lichtschalter an.

„Unser Haus! Petit Pierre, es ist unser Haus!“

Stimmen, unheimlich, geflüstert und von den schimmeligen Wänden an ihn herangetragen. Wie in Trance tastete er sich hinab. In diesen Schlund, der nach Moder und Feuchtigkeit roch. Er fluchte. Eine Glasscherbe steckte in der linken Fußsohle. Er zog sie wütend heraus und warf sie zur Seite. Der Lichtkegel der alten Glühlampe illuminierte das Malheur. Aus den Regalen waren sämtliche Einmachgläser mit Marmelade und Essiggurken gefallen und am Boden zerborsten. Seine Mutter hatte die leckeren Sachen noch eingelegt und eingekocht, kurz bevor sie gestorben war. Er drehte sich um die eigene Achse. Hielt panisch Ausschau nach einem Tier. Einem Marder? Einer Katze? Einer Ratte? Er suchte Spuren und fand: keine.

Die Frauen! Diese Stimmen! Sollte er Nicolas anrufen? Um diese Zeit? Der lag im Bett und träumte von Schönerem. Er musste selbst herausfinden, wer diese Furien waren. Er wird ihnen eine Falle stellen müssen, dachte er, als er mit schmerzverzerrter Miene die Treppe hochhumpelte. Dann sah er sie. Im Lichtschein standen ihre schattigen Konturen unter dem Türrahmen. Sie lachten schrill.

„Unser Haus, Petit Pierre! Es ist unser Haus!“

Er streckte verzweifelt seinen rechten Arm aus. Griff nach ihnen. Erhaschte einen letzten Blick. Dann löschte die Rothaarige das Licht. Die Tür fiel schwer ins Schloss. Er musste nach oben. Schnell. Er rutschte auf der Blutspur, die die Wunde am Fuß auf der Treppe gebildet hatte, aus. Und fiel. Ein Schrei. Von dem Aufprall bekam er nichts mehr mit.

Etwas Helles leuchtete unangenehm in seine Augen. Er blinzelte nervös.

„Herr Simon? Salomon Simon! Können Sie mich hören?”

“Das Haus! Es ist doch mein Haus!“, stammelte er.

„Beruhigen Sie sich, Herr Simon. Sie lagen fast zwei Jahre im Koma. Ein schlimmer Unfall. Dass Sie wieder bei uns weilen, ist nahezu ein Wunder. Aber Sie hatten zwei Engel an Ihrer Seite, die sich rührend um Sie gekümmert haben.“

Hinter einem Schleier aus Angst und Verzweiflung näherten sich ihm zwei Frauen. Sie nahmen seine rechte Hand zärtlich in die ihre.

„Alles wird gut!“, flüsterte die Rothaarige und zeigte ein diabolisches Lächeln.

Er schloss die Augen.

Und kehrte in seine alte Welt zurück.

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