Künzelsau. Nicht im gewohnten Rahmen im Rathaus mit vielen Gästen, sondern digital aus der Stadthalle –und ganz ohne Besucher – hat der Künzelsauer Neujahrsempfang stattgefunden.
Neu war das Format der Veranstaltung und interessant, was zu den Themen Wohnen und Klima gesprochen und via Live-Stream auf dem YouTube-Kanal der Stadt zu verfolgen war. Das Format scheint in der Spitze mit rund 200 Teilnehmern während des Live-Streams angekommen zu sein. In der Zwischenzeit wurde das Video mehr als 1800 Mal aufgerufen.
Der Gemeinderat hat in dem Strategiepapier 2030 fünf Schwerpunktthemen festgelegt: Zukunft Gesundheit, Klima, Infrastruktur, Wohnen, Digitalisierung und Mobilität, so Bürgermeister Stefan Neumann. Der Schwerpunkt liegt im Jahr 2021 auf Wohnen. Ziel ist es, bis zum Jahr 2030 bezahlbaren Wohnraum für alle anbieten zu können. „Gleichzeitig darf Klimaschutz nicht aufgeschoben werden. Das klare Ziel lautet: Künzelsau ist 2030 klimaneutral. Dies bedeutet, dass CO2-Emissionen, soweit es geht, reduziert und sinnvolle Alternativen etabliert werden sollen.“
Professor Dr. Michael Braungart gab bei seinem Vortrag interessante Impulse und stellt sein Konzept „Cradle to Cradle“ (von der Wiege zur Wiege) vor. Hans-Peter Archner, der frühere Chef von SWR-Fernsehen Baden-Württemberg moderierte die Podiumsdiskussion im Anschluss. Beide haben Wurzeln in Künzelsau und Hohenlohe und damit stieg der Chemiker Professsor Dr. Michael Braungart, der einen Teil seiner Kindheit hier verbracht hat, in seinen Vortrag ein. Er fordert mit Fragen zum Umdenken auf: „Warum will ausgerechnet Künzelsau klimaneutral sein? Wir können doch auch klimapositiv sein.“ Es gehe nicht einfach um Vermeiden, Sparen, Verzichten, Reduzieren, sondern vor allem auch darum, langfristig zu denken, insgesamt Qualität zu liefern und nicht nur die Dinge etwas weniger schlecht zu machen. Die Umwelt schützen bedeute, nicht weniger kaputt zu machen, weniger Müll zu produzieren und weniger Energie zu verbrauchen. „Damit schütze ich doch gar nicht, ich zerstöre doch nur weniger. Für weniger Zerstören sind wir aber zu viele.“
Auch die Fassaden nutzen
Wie wäre es, den Umgang mit Natur und Boden anders zu denken, „nicht weniger schlecht, sondern nützlich zu sein“? Gesund bauen ist wichtig und ein Ansatz dafür, so Braungart. Mit seinem Team untersuchte er Gebäude und stellte dabei drei bis acht Mal schlechtere Luft als draußen im Freien fest. Wenn dann solche Gebäude versiegelt und gasdicht gemacht werden, sei dies das Falsche. Sinnvoll sei es zwar, eine andere Landwirtschaft zu betreiben, die den Boden erhalte, aber auch Gebäudefassaden müssten genutzt werden. Auf einem Hektar Fassade könne beispielsweise so viel Eiweiß wie auf 80 Hektar Mais produziert werden.
„Cradle to Cradle ist ein einfaches Konzept: es gibt einfach den Abfall auf. Die Menschen sind die einzigen Wesen, die Abfall machen.“ Es gehe nicht um weniger Müll oder null Abfall, sondern darum, dass alles nützlich, alles Nährstoff ist. Alles was verschleißt, Schuhsohlen, Bremsbeläge, Autoreifen, muss so gemacht werden, dass es in das biologische System zurückgehen kann. Alle Dinge, die nur benutzt werden, wie Waschmaschinen oder Klimatechnik, müssen so gestaltet werden, dass sie zu technischem Nährstoff werden. „Es gibt also keinen Abfall, nur Nährstoffe für die Biosphäre und die Technosphäre. Produkte müssen so gestaltet werden, dass sie nützlich, nicht schädlich sind und so die Ressourcen erhalten bleiben.“ Auch die Wirtschaft sieht er hier gefordert.
Kompostierbare Druckerzeugnisse, Mund- und Nasen-Masken oder Isoliermaterial für Häuser, nennt er unter anderen als Beispiele, wie in der Praxis Nährstoffe in einem Kreislauf zurückfließen können. Weltweit seien schon über eineinhalb Milliarden Masken aus Polypropylen in den Weltmeeren gelandet. Mit Studierenden habe er perfekt kompostierbare Masken entwickelt. „Wenn die verloren gehen, ist das kein Problem. Also, man kann die Dinge doch anders machen.“
„Nützlicher werden“
Wie Nachhaltigkeit definiert und verstanden wird, findet Professor Dr. Braungart traurig: „Die Bedürfnisse der jetzigen Generation zu erfüllen und der folgenden nicht zu schaden. Das ist nicht ausreichend. Es ist vielleicht gerade das Minimum und nicht wirklich, was uns hilft. Lassen Sie uns doch positiv überlegen, wo wir sein wollen.“ Sein Appell: Möglichst viel gut und nicht möglichst wenig schädlich sein, sowie einen positiven Input für die Gesellschaft liefern. „Was mich umtreibt ist, dass es vielleicht zu langsam geht.“
Die andere Sichtweise und die positive Motivation, die in der Fragestellung „was können wir machen, damit wir nützlicher sind?“ liegen, gefällt Bürgermeister Stefan Neumann. Professor Dr. Braungart habe viele Anknüpfpunkte genannt. Die Diskussion darüber, wann ein Baugebiet klimaneutral ist, sei in Künzelsau noch nicht abgeschlossen. Wenn jetzt der Bogen weiter gespannt werde, dass die neu entstehenden Baugebiete in Amrichshausen, Belsenberg und Gaisbach klimapositiv sein sollen, zwinge das zum Nachdenken. „Wenn wir auf die Artenvielfalt schauen, müsste das Gebiet also einen positiveren Beitrag leisten als vorher.“ Die Stadt werde klären müssen, welche Vorgaben an die neuen Bauherren gerichtet werden sollen und, was künftig an Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden müsse.
Auf die Frage zu Photovoltaikanlagen auf städtischen Gebäuden, die via E-Mail eingegangen ist, berichtet Bürgermeister Stefan Neumann über die Aktivitäten im Rahmen des European Energy Award. Dort werde geprüft, welche Strukturen in den einzelnen öffentlichen Gebäuden noch bestehen und wo mit erneuerbaren Energien gearbeitet werden kann.
Positiven Beitrag leisten
„Wir beraten im Gemeinderat darüber, dass beim Zulassen von Freiflächen-Photovoltaik-Anlagen auch die Gemeinschaft davon profitieren soll. Also machen wir es nur möglich, wenn auch die Stadt daran beteiligt ist, um damit auch einen positiven Beitrag zu leisten.“ Die Entwicklung soll in Richtung Klimaautarkie gehen.
Die Stadt könnte so bilanziell durch Wind-, Sonnen- und Wasserkraft auch einen positiven Beitrag im Bereich erneuerbare Energien leisten und noch andere versorgen. stv
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/orte/niederstetten_artikel,-niederstetten-kocher-kommune-will-bis-zum-jahr-2030-klimaneutral-sein-_arid,1755553.html