Mit VR-Brille oder Actionbound-App - Verein KZ-Gedenkstätte Neckarelz geht neue Wege der Erinnerung und des Lernens / Kooperationsprojekt mit zwei Mosbacher Schulen

Realen Ort virtuell ans Licht geholt

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bru
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Neckarelz/Obrigheim. Die Zugänge sind da, bezeichnet und beschrieben auf dem „Goldfisch-Geschichtslehrpfad“. Nur kommt man – so ohne weiteres – nicht hinein in den Stollen in Obrigheim, diese unterirdische Flugzeugmotorenfabrik, in der zwischen 1944 und 1945 Tausende von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern für die nationalsozialistische Rüstungsindustrie schufteten. Als Erinnerungsort ist der Goldfischpfad seit mehr als 20 Jahren Teil der KZ-Gedenkstätte Neckarelz, die an authentischen Stätten Geschichte anschaulich macht. Nun kann der unterirdische Teil auch begangen werden: virtuell.

Auf dem Pfad im Wald über dem Neckar, am realen Ort zwischen Bahnhof Finkenhof und dem Kesselhaus, stellten Vertreter der KZ-Gedenkstätte Neckarelz und Mosbacher Schulen ihr gemeinsames Projekt vor. Mit Hilfe von VR-Brillen kann der Stollen betreten werden – in der Wirkung fühlt sich das fast an wie echt. „Virtual Reality“, virtuelle Realität, kurz VR, ist eine mit dem Computer erzeugte, künstliche Welt, in diesem Falle ein Abbild der realen. Eine VR-Brille ist das „Sesam, öffne dich“ für den Stollen.

Neue Technik erlebbar machen

Tilo Bödigheimer, stellvertretender Schulleiter der Hardbergschule im Mosbach, ist in Sachen Digitalisierung und VR an Schulen ein Vorreiter und Mitglied einer vom Stuttgarter Kultusministerium gebildeten Pilotprojektgruppe, die neue Technologien in Schulen erlebbar machen möchte.

Zusammen mit Hardbergschulleiter Simon Pfeifer und dem in der KZ-Gedenkstätte pädagogisch wirkenden Thomas Altmeyer wurde darüber nachgedacht, was sinnvoll und technisch möglich ist. Zwei Jahre dauerte der Prozess, an dessen vorläufigem Ende der virtuelle Besuch der mit dem einstigen KZ Neckarelz verbundenen Orte steht.

Seit etwa fünf Jahren, erzählt Pfeifer, sei man an der Hardbergschule in Sachen neue Medien unterwegs. „Das Besondere und Neue an diesem Projekt ist, dass wir die Tour selbst erstellt haben.“ Wozu auch Dinge gebraucht wurden wie ein Pick-up, eine 360-Grad-Kamera und eine Foto-Drohne.

Durch die Brille kann man nicht nur in den Stollen gelangen, sondern etwa in die Räume der Schule in Neckarelz, die als Häftlingslager diente, oder zum KZ-Friedhof Binau. Und man kann sogar in die Luft gehen und den Elzmündungsraum, in dem sich die Erinnerungsorte befinden, aus der Vogelperspektive erleben.

Akustische Informationen

Die dreidimensionale Wirkung, die sich dem Auge des Betrachters bietet, kann sogar Schwindelgefühle erzeugen, so real wirkt das Virtuelle. Betrachten wäre hier tatsächlich ein wenig zu kurz beschrieben, denn die VR-Brille hat auch eine akustische Funktion. Wer sich mit ihrer Hilfe auf den Weg macht, erhält gesprochene Informationen. Zitate aus Häftlingserinnerungen zum Beispiel, die beim virtuellen Gang durch den Stollen zum jeweiligen Ort des einstigen Geschehens passen.

Gedenkstätte als Lernort

Schüler der Hardberg- als auch der Partnerschule Auguste-Pattberg-Gymnasium (APG) haben die Texte eingesprochen. Der pädagogische Aspekt ist in der ganzen ehrenamtlichen Arbeit der KZ-Gedenkstätte Neckarelz von großer Bedeutung. „Wir verstehen sie als Lernort“, berichtet Dorothee Roos, die Vorsitzende des Vereins. Die Verbindung zwischen Lernen und neuen Medien sei bei jungen Menschen grundsätzlich positiv besetzt. Entsprechend den Äußerungen von Kultusministerin Susanne Eisenmann, die über verpflichtende Besuche von Schülern in NS-Gedenkstätten nachdenkt, fühlt sich Roos mit „ihrem“ Verein jetzt einmal mehr gut aufgestellt. Dies besonders auch im Hinblick auf den Tag des Offenen Denkmals am 13. September, der – Corona-bedingt – ohnehin anders als sonst verlaufen wird. Da werden in der Gedenkstätte zwei VR-Brillen die ferner liegenden oder nicht zugänglichen Orte den Besuchern nahebringen. „Das Gesundheitsamt hat gerade mit entsprechenden Hygiene-Auflagen sein Okay gegeben“, teilt Dorothee Roos mit.

Neue Wege geht zudem ein zweites Format, das ebenfalls auf dem Goldfischpfad vorgestellt wurde. Was manche als Geocaching oder elektronische Schnitzeljagd kennt, bildet hier mit Hilfe des Programmes „Actionbound“ eine Kombination von Lernen und Outdoor-Aktivität – über das eigene Smartphone. Hier hat APG-Geschichtslehrerin Michelle König wegweisend mitgewirkt. Als abgeordnete Lehrerin an der Heidelberg School of Education, die angehende Lehrkräfte auf die komplexen Anforderungen des Lehrberufs vorbereitet, sind Gedenkstätte und Goldfischpfad für ihre Exkursionen ohnehin schon eine „sehr gut aufbereitete Stätte“.

Mit den neuen Instrumenten sind sie es einmal mehr. „Denn nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehramtsstudenten müssen technisch und digital fit gemacht werden.“ Noch wichtiger aber ist der Pädagogin, dass Inhalt vor Technik stehe und die Erinnerungsorte der KZ-Lager und -Fabrik Orte für historisches, ethisches und politisches Lernen seien. bru

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