Walldürn. Was mit einem lockeren Gespräch mit Flüchtlingen in der Interimsunterkunft des Landkreises im ehemaligen Lidl-Markt begonnen hatte, endete am Montagabend in einem Großeinsatz von Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften des DRK. Und es endete nach gut 90 Minuten des Hoffens und Bangens für alle Beteiligten glimpflich.
Im Aufenthaltscontainer auf dem Parkplatz hatten Manfred Schärpf, Leiter des Fachbereichs II beim Landratsamt, und das für die Unterkunft zuständige Betreuerteam zu einem Gedankenaustausch über die Situation vor Ort eingeladen, der aus bislang ungeklärten Gründen von einer Minute auf die andere eskalierte. Plötzlich verließen gegen 17 Uhr zwei der an dem Gespräch beteiligten Syrer den Raum und tauchten wenig später auf dem Dach des einstigen Supermarktes wieder auf. Im Bereich der ehemaligen Warenanlieferung waren sie auf den First geklettert und liefen aufgeregt von einer Giebelseite zur anderen. Mit nacktem Oberkörper und lautstark gestikulierend machten sie auf Arabisch auf sich und ihre Situation aufmerksam und drohten vom Dach zu springen.
Sprungtuch und Bettlaken
Die zwischenzeitlich komplett angerückte Abteilung Stadt der Freiwilligen Feuerwehr Walldürn bereitete sich derweil auf den schlimmsten Fall vor und hielt im Eingangsbereich des Gebäudes ein sogenanntes Sprungrettungsgerät - umgangssprachlich als Sprungtuch bekannt - bereit. Zusätzlich improvisierten einige Flüchtlinge mit ausgespannten Bettlaken unterhalb des Hauptfirstes. Auch das DRK war mit zwei Rettungswagen, einem Notarzt und der Schnelleinsatzgruppe aus Walldürn präsent, während die Polizei die Buchener Straße im Bereich der Interimsunterkunft vollständig abgesperrt hatte.
Nachdem lange Zeit nicht klar war, welches Ziel die beiden Männer verfolgen und wie darauf seitens der Landkreisverwaltung und der Einsatzkräfte zu reagieren wäre, kam schließlich doch Bewegung in die bis dahin unübersichtliche Situation. Die beiden Syrer forderten, mit einem Vertreter der Presse sprechen und ihr Anliegen schildern zu dürfen. Daraufhin kam die Polizei auf den inzwischen vor Ort befindlichen Redakteur der Fränkischen Nachrichten zu. Dieser erklärte sich zu dem gewünschten Gespräch bereit - in Absprache mit der Polizei unter der Bedingung, dass zuvor die beiden Syrer vom Dach herunterklettern. Da kein geeigneter Übersetzer anwesend war, gab ein Englisch sprechender Landsmann diese Bedingung an die beiden jungen Männer weiter. Die lehnten jedoch zunächst ab, um kurze Zeit später doch selbst ein Signal des Entgegenkommens zu setzen: Einer erklärte sich bereit, vom Dach zu steigen, während der andere auf dem First ausharrte. Für den Abstieg stellte die Feuerwehr eine Leiter bereit.
Unten angekommen, sprach der junge Syrer gegenüber den FN von aus seiner Sicht unwürdigen Lebensbedingungen in der Interimsunterkunft im ehemaligen Lidl. Nicht mal einem Hund könne man eine solche Unterkunft zumuten, ließ er über den Dolmetscher ausrichten. Konkret nannte er Probleme mit der Sauberkeit in den Toilettencontainern und Ratten, die sich regelmäßig im Gebäude aufhalten würden. Außerdem beklagte er das unfreundliche bis zuweilen beleidigende Verhalten der Walldürner Bevölkerung gegenüber den Asylbewerbern. Auch die Dauer der Asylverfahren sei viel zu lang.
Deshalb werde sein auf dem Dach verbliebener Mitstreiter erst herunterkommen, wenn sich an der geschilderten Situation etwas konkret verbessert habe. Aufseiten des Landratsamtes führte Manfred Schärpf das Gespräch und versuchte beruhigend auf den noch immer aufgebrachten Syrer einzuwirken. Er schilderte die Gesamtsituation mit inzwischen über einer Million Flüchtlingen in Deutschland und die Auswirkungen auf die Verwaltung und den Wohnungsmarkt. Ab Januar müsse der Landkreis Flüchtlinge gar in Zelten unterbringen.
"Jetzt sofort können wir nichts ändern", bat Schärpf um Geduld und versicherte, dass alle Beteiligten daran arbeiten würden, die Lage zu verbessern. Gleichwohl bestand der Syrer weiter auf spürbaren Verbesserungen, etwa im sanitären Bereich. Um dieses Problem zu verdeutlichen, wurde das Gespräch in einem der Toilettencontainer fortgesetzt. Dort gelang es Manfred Schärpf zunehmend, den jungen Mann von seinen Maximalforderungen abzubringen. Auf die Toiletten bezogen, regte Schärpf an, die Nutzung nach Nationalität zu trennen, da es wohl in der Vergangenheit Probleme zwischen Syrern auf der einen und Irakis und Afghanen auf der anderen Seite gegeben hatte. Ein ähnliches Modell wird seit kurzem im Küchenbereich erfolgreich praktiziert.
Außerdem versprach Schärpf, den beiden Männern ein gemeinsames Gespräch mit dem Ersten Landesbeamten des Neckar-Odenwald-Kreises, Dr. Björn-Christian Kleih, noch in dieser Woche. Ein Angebot, das die beiden Syrer schließlich akzeptierten - unter der Voraussetzung, dass auch daran ein Vertreter der Presse teilnimmt. Und unter der Bedingung, dass beide freies Geleit erhalten und nicht von der Polizei festgenommen werden, sobald auch der zweite Mann vom Dach gestiegen ist.
Nachdem die Beamten sich damit einverstanden erklärt hatten, ging alles ganz schnell. Der zweite Syrer stieg ebenfalls über die Leiter hinunter und die bis dato allgegenwärtige Anspannung bei Asylbewerbern und Einsatzkräften wich zusehends. Zu verdanken war dies auch dem zurückhaltenden Auftreten der Polizei. Die zwischenzeitlich zwölf hinzugezogenen Streifen- und Kriminalbeamten hielten sich so weit als möglich im Hintergrund, um die Situation nicht zusätzlich zu verschärfen. Rolf Günther vom Polizeirevier Buchen sicherte den beiden Männern zu, dass sie außer einer späteren Befragung keine polizeilichen Maßnahmen zu befürchten hätten, sofern sie sich selbst ruhig verhalten.
Behutsames Vorgehen
Ein behutsames Vorgehen, das sicher auch der Tatsache geschuldet war, dass viele Flüchtlinge die Polizei in ihren Herkunftsländern nicht als Partner schätzen, sondern als Unterdrücker fürchten, wie ein ebenfalls aus Syrien stammender Flüchtling im Gespräch mit den FN erklärte. Wie mancher seiner Mitbewohner kritisierte auch er das Vorgehen der beiden Männer. Damit hätten sie weder sich selbst noch den anderen Asylbewerbern einen Gefallen getan. Denn er befürchte, dass dadurch das Misstrauen in der Walldürner Bevölkerung steigen könnte.
Eine Sorge, die er offenbar mit seinen Mitbewohnern teilt. "Viele haben sich bei mir für den Vorfall entschuldigt. Sie schämen sich dafür", sagte Marcel Daubner, Leiter der Interimsunterkunft. Den Vorwürfen der beiden Syrer trat er entschieden entgegen. Im Bereich der Toiletten habe man mit nachträglich installierten Abläufen bereits Verbesserungen erzielt und von Ratten in den Betten könne keine Rede sein. Ein Kammerjäger habe nichts dergleichen feststellen können. Auch Manfred Schärpf betonte: "Die Unterkunft entspricht sämtlichen gesetzlichen Anforderungen."
Seit Anfang Oktober dient der ehemalige Supermarkt dem Landkreis als provisorische Unterkunft für bis zu 120 Flüchtlinge. Aktuell sind dort rund 110 Asylbewerber aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in 30 mit Bauzäunen und Planen abgeteilten Kabinen untergebracht.
Zum Thema
- Artikel "Unüberlegte Affekthandlung"
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