Wertheim. "Was wäre wenn?" Zugegeben, diese Frage ist eine Floskel. Und doch muss es erlaubt sein, sie zu stellen. Also: Was wäre wohl gewesen, wenn Ulrich Modersohn nicht, nur 29 Jahre alt, im Juli 1943 im Zweiten Weltkrieg gefallen wäre? "Er war im Werden, war unterwegs", schrieb einmal der russische Schriftsteller und Humanist Lew Kopelew. Aber hätte Ulrich Modersohn jene künstlerischen Höhen erreicht, "die er bereits anvisiert hatte und bestimmt hätte erreichen können"? Besucher des Wertheimer Grafschaftsmuseums können sich nun selbst eine Meinung bilden. Das Haus zeigt seit Samstag unter dem Titel "Dem Unerklärlichen Gestalt geben" eine Retrospektive mit Werken des Malers.
Der Modersohn-Saal in dem und in dessen Vorraum die Bilder zu sehen sind, ist damit endgültig zu einem "Familienkabinett" geworden, ist hier doch üblicherweise das Oeuvre der Eltern Ulrichs, Otto Modersohn und Louise Modersohn-Breling, zu sehen und auch Werke seines jüngeren Bruders Christian, der in Wertheim weit bekannter ist als Ulrich, wurden hier schon gezeigt. Niemand habe Mitte der achtziger Jahre, als der Kunstmäzen und Sammler Wolfgang Schuller dem Museum Bilder Otto Modersohns schenkte, "ahnen können, welche Folgen das für das kulturelle Leben des Grafschaftsmuseums haben wird", stellte Dr. Jörg Paczkowski eingangs fest. Christian Modersohn habe Stadt und Museum einmal "das zweite Standbein der Modersohn-Forschung neben Fischerhude" genannt. Zahlreiche Ausstellungen hätten seither stattgefunden, erinnerte der Museumsdirektor und nun, 2013, zeige man erstmals Ulrich Modersohn, der als Junge mit seinen Eltern und dem Bruder Christian in Wertheim gewesen sei und in der kurzen, im gegebenen Lebenszeit "ein ganz ungewöhnliches Werk" geschaffen habe.
Ulrich Modersohn wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden, sein Todestag jährte sich erst kürzlich zum 70. Mal. Anlass genug also, für eine Retrospektive, mit der man, so Paczkowski später, auch das Ziel verfolge, Ulrichs Schaffen bekannter zu machen. "Meine beiden Knaben", zitierte der Redner Louise Modersohn-Breling, "sind mir Freunde, ahnungsvolle Kinder, von einem rührenden Maleifer beseelt. Ich lasse sie gewähren und bin mit ihnen glücklich, weiter wage ich nicht zu denken". Sie habe noch miterleben dürfen, "dass beide Knaben auf dem besten Wege waren, ganz eigene Künstler zu werden".
Doch was sei nun Ulrich Modersohn? "Ist er ein Frühvollendeter, oder einer, dessen Werk nicht abgeschlossen ist?" Sei es gerecht, nach Vorbildern zu suchen? "Ich möchte Sie einladen, sein Werk unvoreingenommen zu sehen, gleichsam werkimmanent." Sehe man einmal von den in Wertheim entstandenen Kinderzeichnungen ab, von denen zwei in der Ausstellung zu sehen sind, umfasse das Schaffen Ulrich Modersohns einen Zeitraum von etwa 14 Jahren. Paczkowski gliederte diese in drei Perioden: Frühe Bilder, in Fischerhude entstanden, "kleinformatig, ausschnitthaft, ein phantastisches Wechselspiel von Himmel und Erde zeigend, Büsche ohne Horizontlinie". Dazu "ungewöhnliche Aquarelle", erinnernd an Corots Text "Der Tag eines Landschaftsmalers", der mit den Worten endet: "Ich träume ein Bild . . . später werde ich meinen Traum malen". Es folgten die Allgäu-Bilder und ganz spontane Zeichnungen "von größter Spannung und Direktheit bei aller Verknappung", die Ulrich Modersohn schuf, als er etwa 20 Jahre alt war. Schließlich die "mystischen Bilder, scheinbar abweichend von dem, was man sonst von ihm kennt", düstere Zeiten ahnend.
Ulrich Modersohn stehe in einer Tradition, die mit dem Naturalismus des 19. Jahrhunderts begonnen habe, "und geht und findet dann eigene Wege". Er selbst habe einmal gesagt, dass er wegen seiner Naturverbundenheit eigentlich ein Romantiker sei. Von einem "Ergriffensein von der Natur", die er teilweise "geheimnisvoll erfasst" habe und einer "eigenen, subjektiven Kunstauffassung" sprach Paczkowski. Auch Ulrich Modersohn habe, ähnlich wie es Ernst Ludwig Kirchner einmal beschrieb", ganz subjektiv und aus sich heraus die Landschaft und die Stimmung erlebt. Er malt die Natur nicht, wie er sie sieht, sondern wie er sie erlebt". ek
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