Würzburg. "Auschwitz schläft nur." Ein provozierender Satz. Doch Rita Prigmore sieht überall Anzeichen dafür, wie virulent der Geist des Nationalsozialismus nach wie vor ist. "Die Braunen laufen wieder", sagt die Würzburger Sinti, die am 14. Juli für ihr Engagement bei der Gemeinschaft Sant'Egidio den Würzburger Friedenspreis erhält. In der Auschwitz-Gedenkstätte sowie in vielen Schulen in ganz Europa spricht sie als "Botschafterin für eine Gesellschaft ohne Rassismus" mit Jugendlichen über die NS-Zeit.
Die erste Fahrt nach Auschwitz, wo sie im Juli 2012 rund 400 Jugendliche aus Westeuropa traf, nahm Prigmore arg mit: "Ich glaube, ich bin damals um fünf Jahre gealtert." Sie erzählte den Jugendlichen, dass ihre Mutter sie und ihre Zwillingsschwester Rolanda gleich nach der Geburt im März 1943 Werner Heyde von der Würzburger Universitätsklinik zu medizinischen Versuchen zur Verfügung stellen musste. Sonst wäre sie gezwungen worden, ihre Kinder abzutreiben.
Lange wusste Rita Prigmore nicht, warum sie sich oft so elend fühlte. Häufig fiel sie in Ohnmacht. Sie ging aufgrund ihrer schwachen Konstitution auch nur drei Jahre in die Schule. Längst erwachsen, klärte ihre Mutter sie eines Tages auf. Es war für sie ein Schock, zu erfahren, dass ein NS-Arzt versuchte hatte, die Augenfarbe von ihr und ihrer Zwillingsschwester zu manipulieren - um auch sie blauäugig zu machen. Dabei starb Rolanda.
Dass heute neuerlich Migranten und Migrantinnen, Sinti und Juden diskriminiert werden, ist für Rita Prigmore unfassbar. "Wohin wird das diesmal führen?", fragt sie sich bang. Inzwischen war die 70-jährige dreimal in Auschwitz, um Jugendlichen an ihrem eigenen Beispiel vom Grauen des Dritten Reichs zu erzählen. Europaweit kommt Prigmore mit jungen Menschen ins Gespräch. Sie besucht Schulen in Berlin. Hamburg. Antwerpen. Spanien. Italien. "Manchmal bin ich zwei- bis dreimal in der Woche unterwegs", sagt sie. Sie wolle die Herzen der jungen Menschen erreichen, so die Friedensbotschafterin von Sant'Egidio: "Damit sie sich, sollte es wieder losgehen, nicht denen anschließen, die mit Hass Menschen verfolgen."
Auch weit über ein halbes Jahrhundert, nachdem der Hitlerfaschismus niedergerungen wurde, sei die Gefahr von Rassismus in Europa nicht gebannt. "Ich höre rassistische Kommentare in der Straßenbahn oder im Flugzeug", sagt Rita Prigmore, die sich bei allen öffentlichen Auftritten stets als "Zigeunerin" bezeichnet. Unter dieser Bezeichnung seien Sinti und Roma beschimpft, bespuckt und verfolgt worden: "Und das ist der Titel, mit dem man uns vergast hat." Ja, sagt Rita Prigmore, es klinge wie ein Schimpfwort. Aber indem sie es benutze, erinnere sie daran, was ihren Leuten angetan wurde und noch angetan wird.
Zigeuner zu Dieben zu stempeln, das sei ja heute immer noch en vogue. Der Begriff "Sinti" verschöne und verdränge die nach wie vor andauernde Diskriminierung, betont die gebürtige Würzburgerin, die viele Jahre in Amerika lebte, amerikanische Staatsbürgerin ist und seit Jahren Vorurteile Zigeunern gegenüber bekämpft.
Schon in den 1980er Jahren, als die Friedensbewegung Schwerter zu Pflugscharen zu schmieden versuchte, klärte Prigmore zusammen mit ihrer Mutter Theresia Seible junge Menschen über die NS-Verbrechen an Sinti auf. Gleichzeitig trieb sie in Würzburg ihr Wiedergutmachungsverfahren voran. Mehr als fünf Jahre dauerte dieser mit etlichen Demütigungen gespickte Prozess. Nicht zuletzt mit Blick hierauf ist es für Rita Prigmore überwältigend, dass sie den Würzburger Friedenspreis erhält. "Was das für mich und meine Leute bedeutet?", fragt sie unter Tränen. "Es zeigt, dass wir als Zigeuner Bürger der Stadt Würzburg sind." Sehr oft habe sie dieses Gefühl nicht gehabt
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