Bürgerkrieg in Syrien - Flüchtlingskinder sind das schwächste Glied in der Kette / Hilfe im Trauma-Kindergarten in Manshia in Jordanien

Grausame Gewalt und den Tod miterlebt

Von 
Laura Overmeyer
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Manshia/Wertheim. Die fünfjährige Hanan streift ihre Schuhe ab und stellt sie ordentlich neben das bereits überquellende Schuhregal. Dann schnappt sie sich ihre Tasche und betritt mit strahlenden Augen ein großes Zimmer, in dem etwa 40 weitere Kinder auf dem Teppichboden und Matratzen, die an den Wänden stehen, sitzen. Es ist kurz vor 8 Uhr, und die fröhlich lärmende Schar wartet auf das allmorgendliche Begrüßungsritual.

"Sabah al-Hair" ruft Silja, die Leiterin des Kindergartens, und wünscht den Kindern damit einen schönen guten Morgen. "Sabah al-Nur" schallt es ihr entgegen. Gemeinsam wird gesungen und gebetet, anschließend teilen sich die Kinder in Gruppen mit unterschiedlichen Aktivitäten auf. Die kleine Hanan, an der Hand einer Freundin, winkt zum Abschied und verschwindet dann im Nachbarzimmer, wo gemalt und gebastelt wird. Die Stimmung ist fröhlich, Kinderlachen erfüllt die Räume. Und doch trügt der Schein: Dies ist kein normaler Kindergarten, und auch wenn sie wieder lachen können, so sind dies doch keine glücklichen Kinder. Sie sind Flüchtlinge aus dem wenige Kilometer entfernt liegenden Bürgerkriegsland Syrien, und sie alle haben Dinge gesehen und erlebt, welche sie ihr Leben lang zeichnen werden.

Manshia ist ein kleines Dorf, das nahe der Stadt Mafraq im Norden Jordaniens liegt. Von einem Hügel aus kann man weit nach Syrien hineinblicken, das so nah ist und doch in einer anderen Welt zu liegen scheint. Dort der Krieg und das Elend, hier die scheinbare Sicherheit.

Hanan wurde in Homs geboren, einer Stadt, die seit nun mehr als drei Jahren umkämpft und nur noch Schutt und Asche ist, genau wie Hanans Haus. Vor acht Monaten entschloss sich die Familie zur Flucht. Zu Fuß kämpften sie sich über die jordanische Grenze und wurden im UN-Flüchtlingslager Zaatari aufgenommen, welches mit seinen 120 000 Einwohnern bereits zur fünftgrößten "Stadt" des Landes geworden und damit infrastrukturell vollkommen überfordert ist.

"Im Lager wollten wir keinesfalls bleiben", sagt Hanans Vater energisch. "Wir lebten zu siebt in einem Zelt. Es gab kaum frische Nahrungsmittel, und die hygienischen Bedingungen im Lager waren katastrophal. Außerdem hofften wir, außerhalb des Lagers hilfsbereite Menschen zu finden. Und Arbeit."

Laut offiziellen Angaben haben bisher etwa 560 000 syrische Flüchtlinge in Jordanien Zuflucht gefunden, tatsächlich geht man jedoch von einer weit größeren Zahl aus. 80 Prozent der Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Die meisten Familien leben außerhalb der Lager. Je nach Budget mieten sie sich winzige Wohnungen oder ganze Häuser an, andere schlagen ihre provisorischen Unterkünfte auf unbebauter Fläche auf. Hanans Familie ließ sich als eine von 350 syrischen Familien in Manshia nieder.

Eine offizielle jordanische Arbeitserlaubnis ist für Flüchtlinge nur schwer zu ergattern. Die meisten gehen illegalen Beschäftigungen zu Niedriglöhnen nach, um die angesichts des nicht abreißenden Flüchtlingsstroms stets steigenden Preise für Miete, Strom, Wasser und Lebensmittel aufzubringen.

"Mehr als die Hälfte des Essens, das wir durch unsere UN-Lebensmittelmarken erhalten, müssen wir verkaufen, um am Ende des Monats ein Dach über dem Kopf zu haben", klagt Hanans Mutter. Auch Hilfslieferungen, wie Kleider- oder Spielzeugspenden, werden verscherbelt.

Und dennoch reicht es meist nicht aus: laut einer Studie des internationalen Entwicklungshilfe-Verbunds Oxfam, decken die Einkünfte (inklusive Hilfsgelder) der Flüchtlingsfamilien im Durchschnitt weniger als die Hälfte ihrer Kosten für Unterkunft, Essen und medizinische Versorgung. Vier von fünf Familien seien verschuldet. Sind die Ersparnisse aufgebraucht, so bleibt nur noch die Rückkehr ins Lagerelend.

Elend ist greifbar

Dieses Elend ist greifbar. Es bedeutet Hunger, Kälte, Krankheit, und es gefährdet insbesondere das schwächste Glied der Kette: die Kinder. Hilfsgüter und Spendengelder, medizinische Versorgung und warme Kleidung sollen diesem Elend so gut es geht entgegenwirken. Doch es gibt noch ein anderes Elend, eines das tiefer sitzt und langfristig größeren Schaden an den Kindern nimmt als ein leerer Bauch. Hanan hat mit ihren fünf Jahren den Tod gesehen. Sie sah unmenschliche Gewalt. Sie sah, wie ihre Heimat zerstört wurde und ihr Haus, das gleichzeitig auch ihre Vergangenheit barg, zusammenbrach. Wie fast jedes syrische Kind hat sie Angehörige und Freunde verschwinden und sterben sehen.

Wenn sie im Kindergarten von Manshia mit ihren Freunden spielt, dann wirkt sie wie ein normales und fröhliches Mädchen. Doch nachts plagen sie schreckliche Albträume, und das Erlebte wallt in ihr auf.

Etwa 80 Kinder im Alter von vier bis sieben Jahren besuchen den Kindergarten in Manshia. 80 Kinder. Das wirkt wie ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts der erschreckenden Zahl von 1,2 Millionen syrischer Kinder, die sich derzeit als Flüchtlinge außerhalb ihres Heimatlandes aufhalten. Oder angesichts der noch erschreckenderen Zahl von 4,2 Millionen Kindern, welche innerhalb dieses bürgerkriegsgeplagten Vaterlandes den täglichen Gefahren von Armut, Vertreibung und Gewalt ausgesetzt sind.

Sie alle gehören einer Generation an, deren Zukunft nicht nur aufgrund der weiter andauernden Kämpfe auf dem Spiel steht. Sie haben kaum Zugang zu Bildung; weder in Syrien, wo jede fünfte Schule zerstört, geschlossen oder zweckentfremdet wurde, noch in den Aufnahmestaaten, wo die nationalen Bildungsinstitutionen keine Kapazitäten haben, um die Massen syrischer Schulkinder aufzunehmen. Sie haben schwere Schicksalsschläge erlebt und blicken in eine ungewisse Zukunft in der Hoffnung und Zuversicht, in der dunklen Masse an Ängsten unterzugehen drohen.

Und so appelliert Laura Overmeyer, die die Missstände vor Ort kennengelernt und miterlebt hat: "Syriens Kinder brauchen Ihre Hilfe. Unterstützen Sie konkrete Projekte, wie den Trauma-Kindergarten von Vision Hope oder spenden Sie an Aktionen wie ,No Lost Generation' von Unicef, um zu verhindern, dass eine verlorene Generation heranwächst."

Kinder sollen lernen, wieder Kind zu sein

Wertheim/Manshia. "Jedes Kind hat eine andere Art, mit der Vergangenheit umzugehen", erklärt Daniel Harrison. "Während manche die glückliche Gabe der Verdrängung zu besitzen scheinen, zeigen andere deutliche Zeichen der Traumatisierung: Schüchternheit, Sprachverlust, Bettnässen, plötzliche emotionale Ausbrüche und Weinanfälle, Energielosigkeit. Nahezu alle Kinder haben Angst vor der Zukunft und vor einer Wiederholung der traumatischen Erlebnisse." Harrison entnimmt diese Daten einer Studie, die er im vergangenen Jahr von vier- bis fünfjährigen Flüchtlingskindern in Manshia erstellt hat.

Vor etwa einem Jahr kam der junge Amerikaner mit seiner Frau Kim und der gemeinsamen Tochter Eva nach Mafraq. Das Paar hatte zuvor als Entwicklungshelfer im Jemen gearbeitet, musste das Land jedoch aufgrund der Sicherheitslage verlassen.

Sie beschlossen, nach Jordanien zu gehen und sich dort für syrische Flüchtlinge einzusetzen. In Kooperation mit der deutschen "NRO Vision Hope International" verwirklichten sie ihr Konzept eines Trauma-Kindergartens als Pilotprojekt für weitere Kindergärten in Jordanien und dem Libanon.

"Die Idee war, einen sicheren Ort für die Flüchtlingskinder aufzubauen, in dem sie mittels verschiedener Elemente, wie Montessori und Psychotherapie, ihre Vergangenheit hinter sich lassen und lernen können, wieder Kinder zu sein", erklärt Kim Harrison.

In erster Linie ist der Kindergarten ein Hort der Geborgenheit: Es wird gespielt, gesungen, gebastelt und gelernt. Englisch und Arabisch stehen beispielsweise auf dem Unterrichtsplan.

Zusätzlich wenden die Erzieherinnen mal-therapeutische oder spiel-therapeutische Ansätze an, um die Kinder behutsam zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit zu bewegen und gleichzeitig ihren Blick auf eine hoffnungsvollere Zukunft zu lenken.

In schwierigen Fällen werden die Kinder, und gegebenenfalls auch ihre Familienangehörigen, zur Behandlung bei einer Psychologin aus der jordanischen Hauptstadt Amman geschickt.

Auch die Erzieherinnen müssen in regelmäßigen Abständen diese Expertin konsultieren, da sie neben den Traumata der Kinder auch eigene psychische Lasten mit sich tragen. Alle 18 Frauen sind pädagogisch aus- und traumatherapeutisch fortgebildete syrische Flüchtlingsfrauen.

"Al Iman, Al Amal, Al Hubb ("Glaube, Hoffnung, Liebe"). Das ist unser Grundsatz", erklärt Silja (23), die Leiterin des Kindergartens. "Vor allem die Liebe stellen wir in den Mittelpunkt: Sie ist es, die wir an die Kinder weitergeben und die den inneren Heilungsprozess unterstützt."

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