Die New Yorkerin Florence Foster Jenkins ging als "schlechteste Opernsängerin der Welt" in die Geschichte der Carnegie Hall ein - dort ist sie 1944 aufgetreten: Mit schiefen Tönen und ohne Gespür für Intonation und Rhythmus. Die Kulturnachrichten waren voll von Beiträgen über Meryl Streep und ihre aktuelle filmische "Florence"-Vorstellung.
Für mich war's ein plötzlicher Zeitsprung, als ich auf Bayern 2 - ich saß frühs im Auto an der Einmündung Elpersheim/Taubertalstraße - Foster Jenkins' Stimme schräg aus dem Radio tönen hörte.
Es mag etwa 35 Jahre her sein, als wir im Musikunterricht Foster Jenkins kreischen hören mussten. Wer am gleichen Gymnasium wie ich war, kann unschwer erraten, bei wem. Bei Herrn R. (wir sind allerdings heute per Du) musste man Junge-Mädchen sitzen (also gemischt), Afro-Tanz und das Dirigieren lernen, einfache Kompositionen schreiben und Lieder singen ("Es sagen ja die Blicke, die Worte sagen nein - das pflegt bei Mädchen immer vermischt zu sein..." - war's von Haydn?) oder auf italienisch jaulen: "Signor Abbate! Io sono, io sono, io sono ammalato" (Beethoven).
Zwischendrin machte sich Herr R. immer wieder den Spaß, uns zur Plattenspieler-Musik Paar-tanzen zu lassen, brrrr!
Und wer nicht aufpasste oder dazwischenredete, durfte einhundert Mal schreiben: "Ich darf meinen Lehrer nicht mit Unfug nerven..." - oder so ähnlich. Herr R. nahm sein Fahrrad mit in den Klassenraum und räsonierte über eine elektronische Vorrichtung, die es ihm ermöglichen würde, per Zeigestock dem ungezogenen Schüler die Höhe seiner Schreib-Strafe auf einem Display anzuzeigen. Er nannte den Stock Engelsgabel und zum Vorgang sollte das Teufelsglöckchen läuten. Der Mechanismus sollte vollautomatisch in Gang kommen, wenn ein Schüler den "Rubikon" überschritt - eine vorgestellte Linie vor dem Lehrerschreibtisch.
Das mag sich ein wenig nach pädagogischem Irrenhaus anhören. Für mich war's im ganzen gymnasialen Mainstreamunterricht eine Oase des Absurden, deren Früchte ich sehr genossen habe. Die Sache mit dem Rubikon habe ich erst später kapiert - aber es gibt ja auch Scherze, für die man ein paar Jahre braucht, bis man darüber lachen kann.
Ein paar Freunde und ich versuchten den Lehrer in seiner pointierten Sprechweise zu imitieren - wir waren so etwas wie Fans geworden. "Du hassst den Rubikon überschritten!", so zischten wir uns an. Und wenn mir heute ein Mensch auf die Nerven geht, dann falle ich immer noch in Herrn R.s schneidendes Zischen.
"Ich war elf, und später wurde ich sechzehn. Verdienste erwarb ich mir keine, aber das waren die wunderbaren Jahre", heißt es in Truman Capotes "Grass Harp". Viele Dinge aus den sensiblen Phasen des Großwerdens hallen nach.
Ich höre in diesem Echo, dass es gut ist, seine Spleens zu pflegen. Nicht immer - aber immerhin. Das Leben ist (auch) schief und manchmal ohne Intonation und Rhythmus. Und den Rubikon, den muss man ebenfalls überschreiten. Das Risiko ist geringer, als man denkt. Zaudern führt nicht weiter. Es geht um die Bildung eines Willens, um die Tat.
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