"Prima la musica e poi la parole" heißt nicht nur ein einaktiges Divertimento teatrale von Antonio Salieri, der Satz steht auch für den alten Streit über den Wert von Musik und Text in der Oper. Bei ihrer Neuinszenierung von Ludwig van Beethoven "Fidelio" in der Stuttgarter Staatsoper entscheiden sich Jossi Wieler und Sergio Morabito für die Gleichwertigkeit. Von dem Text von Joseph Sonnleitner und Friedrich Treitschke ist nichts gekürzt.
Bei seiner überhaupt ersten Inszenierung in Stuttgart machte Wieland Wagner aus dem Musikdrama ein szenisches Oratorium, ohne Requisiten auf seiner berühmten "Kochplatte", bei dem die Dialoge einem Sprecher übertragen waren. 1985 inszenierte Juri Ljubimow "Fidelio" als polit-kritisches, aktuelles, realistisches Werk. Zu übergehen ist Martin Kusejs lediglich nach Originalität trachtende, manierierte Inszenierung aus dem Jahr 1998. Und jetzt also Jossi Wielers und Sergio Morabitos "Fidelio" in Ludwig van Beethovens Fassung letzter Hand von 1814.
Die örtliche und zeitliche Fixierung, Spanien, Ende des 18. Jahrhunderts, spielt keine Rolle. Auch steht nicht das private Schicksal eines Ehepaars im Mittelpunkt, es ist nicht nur das Hohelied der Gattenliebe, wie das Werk vor allem im 19. Jahrhundert gedeutet wurde. Die Geschichte spielt vielmehr im Hier und Heute und doch ist sie nicht aktualisiert. Aber wenn auch vor allem die Kostüme von Nina von Mechow auf die Gegenwart hindeuten, so ist doch das Ganze, in dem Bühnenbild des vor wenigen Monaten im Alter von 54 Jahren gestorbenen Bert Neumann nicht unbedingt als gegenwärtig zu bezeichnen. Das liegt vor allem an dem Raum, in dem sich die Handlung abspielt, aber auch an der Führung der Solisten und nicht zuletzt an der des von Johannes Knecht musikalisch gekonnt einstudierten Chors.
Im ersten Akt stehen vor einem weißen Rundhorizont eine Hollywood-Schaukel, ein Förderband, auf dem Pakete transportiert und dann gestapelt werden und in der Mitte eine große graue Kiste, über der eine graue Tafel hängt. Auf sie werden die gesungenen Texte als Schriftband projiziert, allerdings mit einer Zeitverzögerung von rund fünf Sekunden, was eigentlich nur vom Geschehen ablenkt, da durchaus wortverständlich gesungen wird.
Im zweiten Akt, in dem Rocco und Fidelio ein Grab ausheben, in dessen Grube dann Don Pizarro hineinfällt, entpuppt sich die graue Kiste nicht etwa als Florestans Gefängnis, sondern als Abstellraum, mit blauen Müllsäcken und Aktenbergen, in dessen Mittelpunkt ein relativ kleiner Papierschredder steht. So werden also Schicksale vernichtet.
Vom Schnürboden hängen ständig über ein Dutzend Mikrofone herunter, die nicht nur zur Verdeutlichung des gesprochenen Wortes dienen, sondern durch die auch Geräusche verstärkt werden, wie etwa Marzellines Bodenschrubben zum Auftakt, die in dieser Aufführung nicht bügeln muss, wie man es sonst gewohnt ist. Doch das eine ist nicht besser als das andere. Wenn die Sänger sprechen, dann tun sie das langsam und gedehnt, was dem Text eine Bedeutungsschwere gibt, obwohl er Teil des Ganzes ist und Singen und Sprechen eigentlich den gleichen Stellenwert haben und so nahtlos ineinander übergehen sollten. Unverständlich ist auch die Charakterisierung des Chors der Gefangenen, denen man ihr Leiden im Grund nicht abnehmen kann. Tippeln sie doch, gleich gekleidet wie der eine oder andere Solist, mit Augenmasken im Gänsemarsch auf der Bühne herum.
Musikalisch bewegt sich die Aufführung auf hohem Niveau. Das nicht zuletzt dank des die richtigen Akzente und klare Konturen setzenden Dirigats von Sylvain Cambreling und des unter seiner umsichtigen Leitung nuancenreich spielenden Staatsorchesters Stuttgart. In der Titelrolle wartet Rebecca von Lipinski mit einem schön geführten, dramatischen Sopran und entschlossenen Spiel auf.
Wie schon 1985 und 1998 - welche Leistung! - gestaltet Roland Bracht die Partie des Kerkermeisters Rocco mit fülligem Charakterbass und glaubhaft in der Darstellung. Michael Ebbecke, 1985 und 1998 noch der Don Fernando, leiht jetzt seinen expressiven Charakterbariton dem Don Pizarro. Als Don Fernando feiert der Bariton Ronan Collett mit Erfolg sein Rollendebüt, ebenso wie der Tenor Daniel Kluge als Jaquino und die Sopranistin Josefin Feiler als Marzelline. Mit ergreifend charaktervollem Gesang und intensivem Spiel debütiert der Heldentenor Michael König als Florestan in Stuttgart. Dieter Schnabel
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/kultur_artikel,-kultur-im-papierschredder-werden-schicksale-vernichtet-_arid,720122.html