Erst zückt ein neugieriger Urlauber aus der russischen Reisegruppe in Venedig den Fotoapparat. Dann der zweite, der dritte und schließlich steht eine ganze Touri-Traube am Kanal, um ein Bild zu machen. Als Motiv haben sie weder einen der zahllosen Kulturschätze entdeckt, noch stehen sie erstmals staunend am Markusplatz oder vor der Rialto-Brücke.
Stattdessen haben sie uns gesehen, wie wir in Kajaks durch die venezianischen Kanäle paddeln. Obwohl es in Venedig uferlos viel zu sehen gibt und die Lagunenstadt selbst ein Ereignis für sich ist, wird man so selber zur häufig fotografierten Attraktion - als Exot zwischen Gondeln und Wassertaxis.
Wer dabei nicht als einer der wenigen Privatpaddler unterwegs ist, gehört in der Regel zu einer Tour von "Venice Kayak". Der Däne René Seindal ist seit sechs Jahren der einzige Anbieter für die ungewöhnlichen Lagunen-Exkursionen. Ursprünglich wollte er nur Wochentouren anbieten und hatte seinen Stützpunkt dafür auf einem Campingplatz auf dem Lido, der Strandinsel der Venezianer. Irgendwann verlagerte er seine Kajakzentrale jedoch auf die Insel Certosa, auf der einst Mönche lebten und die dann lange Zeit verlassen war, bis sich ein Investor fand und unter anderem ein Hotel und eine Marina eröffnete.
Wassertaxis rauschen vorbei
Dort macht man heute die ersten Paddelzüge - krasser Anfänger sollte allerdings nicht sein. Etwas Erfahrung und ein Gefühl für das Steuern des Kajaks sollte man bereits haben, so dass man scharf abbiegen und schnell das Kajak bremsen kann. Schließlich geht es im Laufe der Tour teilweise durch sehr schmale, sehr stark befahrene Ka näle.
Schon ein paar Minuten nach dem Start kommt bereits die erste Herausforderung: Um überhaupt in die Kanalverästelungen der Hauptinsel Venedig zu kommen, muss der breite Canale delle Fondamenta Nuove überquert werden. René gibt Anweisungen. Kurz warten, den richtigen Moment abpassen, erst das Vaporetto, einen venezianischen Wasserbus, vorbeibrummen lassen und in den aufschwappenden Wellen etwas vorarbeiten. Auf halber Strecke dann noch zwei viel zu schnelle Wassertaxis durchrauschen lassen, bevor es in den noch etwas höheren Wellen ganz rüber geht.
Die Kajaks liegen allerdings so stabil im dunkelgrünen Wasser, dass selbst Wenig-Paddler gut das Gleichgewicht halten können. Auf der anderen Seite der Lagune befinden sich Arsenale, ein Werftkomplex, dessen Geschichte im 12. Jahrhundert begann. Als Venedig noch See- und Handelsmacht im Mittelmeer war, wurden dort Schiffe für die Flotte innerhalb weniger Wochen gebaut. Heute wird das Areal teilweise für Ausstellungen der Biennale und noch vom Militär genutzt.
Einer der größten Vorteile einer Venedig-Tour mit dem Kajak ist die Möglichkeit, überall hinfahren zu können. Die Regeln, die man beachten muss, sind überschaubar. "Wie bei den Gondeln gilt: kein Motor, keine speziellen Regeln", erklärt der 49-Jährige. "Es gibt kein Rechts vor Links und es ist sogar erlaubt, aus falscher Richtung in Einbahnkanäle zu paddeln." Wir sollen uns aber möglichst links halten und immer genau auf seine Signale achten.
Versteckte Winkel und Details
Die Tour eröffnet derweil einen ganz anderen Blick auf den Kern Venedigs, der auf über 100 kleinen Inseln gebaut und durch etwa 400 Brücken miteinander verbunden wurde. An der Seite der Häuser, die nur vom Kanal aus zu sehen ist, entdeckt man versteckte Winkel und Details in den alten Fassadenverzierungen. Man sieht die Brücken von unten, an deren Bögen verwunschen das vom Wasser reflektierte Sonnenlicht schillert. Am Arsenal-Hauptportal geht es unter einer so niedrigen Brücke hindurch, dass man sich extrem ducken muss. Immer wieder kommen die Kajakfahrer auch den bröckelnden Wänden nah, an denen unten, wo die Wellen entgegenschwappen, die Backsteine durch das Salzwasser freigelegt wurden.
"Hier wird es auf dem Kajak nie langweilig, weil man immer etwas Neues entdeckt", sagt René, der ursprünglich in der Computerbranche gearbeitet hat und erst vor acht Jahren zum Paddeln kam. Damals war dieser Sport für ihn eine Flucht aus einer schwierigen Lebenssituation. "Die schlimmste Zeit meines Lebens führte damals in die beste." Heute paddelt er pro Jahr ungefähr 2000 Kilometer durch Venedig. Das erfordert volle Aufmerksamkeit, vor allem, wenn es voller wird - wie auf den breiteren Kanälen.
Von Kanal zu Kanal dringen die Paddler weiter in das Labyrinth vor und entdecken dabei die verschiedenen Gesichter der Stadt. Im Bezirk Castello sieht man ein Venedig, das zumindest vielen Tagestouristen verborgen bleibt: die alltägliche Seite, wo eine Venezianerin unter Quietschen ihre Leine mit der gewaschenen Wäsche quer über den Kanal zieht. Ein alter Mann schaut unbeeindruckt aus dem Fenster, während er eine Zigarette raucht. Aus einer Wohnung dringt lauter Italo-Pop, während neben einem Marktstand drei Frauen mittleren Alters beinahe gleichzeitig und lautstark Alltagsneuigkeiten austauschen.
Nach und nach treiben mehr Gondeln mit Touristen vorbei, von denen jährlich rund 20 Millionen einfallen. Die Brücken werden voller und die Blicke neugieriger, bis man schließlich zur Rialto-Brücke vorstößt - neben dem Markusplatz das zweite touristische Epizentrum Venedigs, das in der jetzigen Form seit 1591 einen weißen Steinbogen über den Canal Grande spannt.
Zurück mit Muskelschmerzen
Hier beginnt der abenteuerlichste Abschnitt: raus aus dem kleinen Seitenkanal, rauf auf die Wasserstraße, die so etwas wie die Autobahn und der breite Boulevardkanal der Stadt ist. Hier fahren sie alle: die Wassertaxis, die privaten Motorboote, die Fährboote zum Flughafen, voll beladene Transportboote, die eiligen Ambulanzboote und natürlich noch mehr Gondeln, die die Gondolieri gänzlich unbeeindruckt durch das Treiben manövrieren.
Dass die Kajakfahrer sich in den Wellen des Verkehrs mit dem vergleichsweise kleinen Kajak nicht verloren vorkommen, liegt an René. Er hat die Situation stets im Blick und gibt seine Signale auch im Getümmel so, dass kaum Stress aufkommt, während der Fischmarkt, Restaurants und einige der prachtvollen Fassaden der rund 200, oft Jahrhunderte alten Palastbauten vorbeiziehen.
Schließlich verschwinden die Paddler in einer Seitenwassergasse, fahren gemächlich durch San Polo und machen sich langsam wieder auf den Rückweg. Paddelzug für Paddelzug und mit müden Oberarmmuskeln gleiten sie durch die fotogenen Häuserschluchten, in Richtung des ruhigen, des anderen Venedigs.
Informationen
In einer Gruppe von zwei bis fünf Personen mit Guide kostet eine Halbtagestour mit Venice Kayak 90 Euro pro Person und eine etwa siebenstündige Ganztagestour 120 Euro pro Person. Es werden auch Abend- und Mehrtagestouren angeboten.
Auf der ruhigen Insel Certosa gibt es mit dem neuen Venice Certosa Hotel eine hübsche Mittelklasseunterkunft. Wer eine Kajaktour bei Venice Kayak bucht, bekommt auf die Übernachtungen zehn Prozent Preisnachlass. Doppelzimmer mit Frühstück zwischen 90 und 140 Euro und Einzelzimmer zwischen 55 und 85 Euro, je nach Saison.
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