Badische Landesbühne

Wertheim: Vielschichtiges Theatererlebnis zwischen Literatur und Performance

„Heimsuchung“ als multimediales Experiment. An Jenny Erpenbecks komplexen Roman herangewagt.

Von 
Jens-Eberhard Jahn
Lesedauer: 
Bühnenbild, Video, Text, Pantomime und Tonspur fließen in dieser Inszenierung zu einem Gesamtkunstwerk ineinander. © Jens-Eberhard Jahn

Wertheim. Mit der Umsetzung von Jenny Erpenbecks 2008 erschienenem Roman „Heimsuchung“ als multimediales Gesamtkunstwerk hat sich die Badische Landesbühne auf ein Wagnis eingelassen. Schon in der Einführung in der Aula „Alte Steige“ weist Chefdramaturg André Becker tröstlich darauf hin: „Es ist nicht Ihre Aufgabe, heute alles zu dechiffrieren und zu verstehen.“ Natürlich nicht – das werden in den kommenden Jahren die Abiturientinnen und Abiturienten in ihren Deutschprüfungen übernehmen. Denn „Heimsuchung“ ist in Baden-Württemberg Pflichtlektüre fürs Abitur.

Schullektüre sollte einerseits nicht zu umfangreich sein, damit Lehrende und Lernende sie zeitlich bewältigen können. Andererseits sollte sie exemplarisch Lebenssituationen oder geschichtliche Epochen thematisieren. Jenny Erpenbecks Roman erfüllt beide Kriterien so perfekt, als wäre er eigens für den Schulunterricht verfasst. Dem Anspruch der Lesbarkeit hingegen wird das sprachlich überaus komplexe und unübersichtliche Werk kaum gerecht – es dürfte daher wohl nur Gymnasiastinnen und Gymnasiasten zugemutet werden. Selbst leidenschaftliche Leserinnen und Leser verlieren bei der Vielzahl der rasch wechselnden Figuren und ihrer verwobenen Schicksale leicht den Überblick.

Im Zentrum steht das Haus

Die oft blassen Charaktere wirken mitunter wie Beiwerk, denn im Zentrum steht das Haus – das Heim, vielleicht auch die Heimat –, die immer wieder verloren geht und neu gefunden werden muss. Das gilt sowohl für die geografische als auch für die kulturelle und politische Heimat. Das Grundstück am idyllischen brandenburgischen Scharmützelsee erträgt im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts zahlreiche Bewohnerinnen und Bewohner, die fast allegorisch für die Zeitgeschichte stehen: Bauern, Intellektuelle, Opportunisten, Nationalsozialisten, Geflüchtete, ein Rotarmist, idealistische Kommunisten und schließlich westdeutsche Spekulanten, die das Haus in den 1990er-Jahren abreißen lassen. Ihnen allen steht der statische „Gärtner“ gegenüber, der nie spricht und, wie es im Roman heißt, „wahrscheinlich schon immer da war“.

Daniel Schüßler, Off-Theater-Regisseur aus Köln, hat gemeinsam mit Hanna Held und der Badischen Landesbühne aus Heimsuchung eine multimediale Performance geschaffen. Der Protagonist – das Haus – ist bereits vorhanden, wenn das Wandertheater ankommt. Es wird durch die Bühne selbst verkörpert. Das Bühnenbild besteht aus Wolken und dem Schriftzug „Germania“, der auf die historische und geografische Dimension des Stoffes verweist. Ununterbrochen wird die Aufführung von nicht immer ganz stimmigen Naturgeräuschen begleitet. Hinter einer schiefen Ebene laufen im Zentrum des Raums Tommy Vellas traumhaft gelungene Videoinstallationen, die Erpenbecks poetische Sprache visuell interpretieren, dem Publikum Orientierung bieten und dem Gärtner eine zweidimensionale Verortung als Kontrast zu den fünf Darstellerinnen und Darstellern geben.

Die schlichten Kostüme dienen als Passepartouts, denn die Schauspielenden müssen episodenhaft sprachlich und pantomimisch mehr als ein Dutzend Figuren und noch mehr Emotionen verkörpern. Laura Brettschneider, Lasse Claßen, Michael Johannes Mayer, Evelyn Nagel und Nadine Pape sprechen den gekürzten und überarbeiteten Romantext in wechselnden Rollen, bleiben dabei jedoch stets in der dritten Person. Allein dies ließe sich bereits als Paradebeispiel epischen Theaters verstehen. Vor allem Claßen und Pape verfremden den Text zusätzlich durch ihre bewusst hyperkorrekte Aussprache – ein Effekt, auf den man vielleicht hätte verzichten können.

Ohne Pause und ohne Souffleur monologisch agiert

Mit ihrer brillanten sprachlichen und gestischen Ausdruckskraft überstrahlt Evelyn Nagel das Ensemble. Doch auch die übrigen Darstellerinnen und Darsteller überzeugen – sowohl auf der Bühne als auch in den teils unter Wasser gedrehten Videos. Sie leisten Beeindruckendes: 80 Minuten lang ohne Pause und ohne Souffleur monologisch zu agieren, verlangt höchste Konzentration. Dialoge oder eine klare Handlung gibt es nicht.

Wie wirkt das Ganze nun auf die Abiturientinnen und Abiturienten? Eine Schülerin der elften Klasse zeigte sich nach der Aufführung begeistert: „Das war sehr interessant, und sie haben die ,Heimsuchung‘ sehr gut umgesetzt und zusammengefasst. Ich würde es mir gern noch einmal anschauen.“ Ein Schüler der zwölften Klasse äußerte sich positiv überrascht: „Die Umsetzung auf der Bühne war viel intensiver und skurriler, als ich erwartet hatte, und bei weitem nicht so öde wie das Buch.“ Eine Lehrerin erklärte den Fränkischen Nachrichten: „Das Buch ist sehr subjektiv, und gerade diese Emotionen wurden in der Bühnenfassung gut und kurzweilig vermittelt.“ Nun müsse sie sich nur noch überlegen, wie sie im Unterricht insbesondere die drastische Vergewaltigungsszene nachbereiten könne. Bernadette Latka, Lehrerin und Regisseurin im Wertheimer Convenartis-Keller, äußerte sich hingegen zurückhaltender: „Ich habe eine Zeit gebraucht, war dann aber sehr fasziniert.“

Weltweit fasziniert Jenny Erpenbeck Leserinnen und Leser. Der 1967 in Ost-Berlin geborenen Autorin wurde von der Kritik mitunter eine Idealisierung der DDR und eine distanzierte Haltung zum vereinigten Deutschland vorgeworfen. Sollte das zutreffen, wäre eine solche Perspektive immerhin eine erfrischende Horizonterweiterung für Schülerinnen und Schüler im Südwesten. Doch davon kann kaum die Rede sein: Bei Erpenbeck werden alle gesellschaftlichen und historischen Bezüge – selbst die Schoah – letztlich zu Fußnoten der Erdgeschichte. Chefdramaturg Becker erklärt dies als Ausdruck eines zyklischen Geschichtsbilds der Autorin. Diese Beliebigkeit jedoch lässt Ratlosigkeit zurück und erzeugt eine Sinnleere, die auch das skurrilste Multimedia-Gesamtkunstwerk nicht füllen kann.

Copyright © 2025 Fränkische Nachrichten