Buchen. Es schien ein ganz normales Sommerfest zu sein am Montagabend im Garten des Mehrgenerationenhauses in Buchen. Erwachsene und Jugendliche plauderten zwanglos und aßen miteinander. Für 14 Schüler und ihre zwei Lehrerinnen war es jedoch ein Abschiedsfest. Am Mittwoch traten sie mit der Bahn ihre zweitägige Rückreise nach Zhytomyr an, einer Stadt mit rund 260 000 Einwohnern, die etwa 120 Kilometer westlich von Kiew liegt.
Wer im Internet nach der Stadt am Fluss Teteriw sucht, erfährt, dass es sich um einen Verkehrsknotenpunkt und ein Industriezentrum mit Hochschulen, Theater und Museen handelt. Rasch stößt man auf Informationen über die Schule „Lyzeum Nummer 25“, die die jungen Gäste aus Buchen besuchen. Man sieht Bilder eines fast komplett zerstörten Gebäudes. Denn die Schule wurde im März von einer russischen Rakete getroffen. Etwa die Hälfte der Einwohner sollen die Stadt wegen des Krieges verlassen haben.
Begeistert von der Architektur
Einer der Schüler, der inzwischen nach Zhytomyr zurückgekehrt ist, ist der 15-jährige Andrii. Er wurde von der Höpfinger Familie Anke und Adalbert Hauck aufgenommen. Der Junge spricht sehr gut Englisch, was die Verständigung mit seiner Gastfamilie enorm erleichtert hatte. Nach seinen Worten hat er den Aufenthalt in Deutschland sehr genossen. „Ich bin begeistert von der Architektur hier“, sagte er. „Und ich mag die Natur.“ Nur die hohen Preise in den Geschäften hätten ihn gestört. Er habe Freunde hier gefunden. Doch jetzt freue er sich darauf, wieder nach Hause zurückzukehren.
„Wir sind gute Freunde geworden“, bestätigte Benjamin Hauck. Der 16–Jährige Gymnasiast hatte gern sein Zimmer für seinen Altersgenossen geräumt. „Wir haben Andrii wie einen Bruder behandelt.“ Man habe unter anderem zusammen Kniffel und Rommé gespielt, sich über Computerspiele unterhalten und einen Ausflug nach Dilsberg unternommen. Auch an einem großen Familienfest habe Andrii teilgenommen. Benjamins Eltern Anke und Adalbert Hauck wollen die Erfahrung mit dem Gastschüler nicht missen. „Es war zeitintensiv, aber sehr bereichernd“, stellte Anke Hauck fest. „Wir haben Andrii Normalität geboten.“ Sie lobten ihren Gast als „sehr höflich, gut erzogen und zuvorkommend“.
Innerhalb weniger Tage hatte es sich ergeben, dass die Haucks einen ukrainischen Schüler würden aufnehmen können. Dienstags fand ein sogenannter Koordinationsabend am BGB statt, donnerstags trafen die ukrainischen Schüler ein. An dem Dienstagabend wurde auch ein auf Traumata spezialisierter Psychologe online zugeschaltet. Dieser riet den Eltern, die Kinder nicht auf die Situation in der Ukraine anzusprechen und ihnen zu ermöglichen, sich vom Familienleben zurückzuziehen.
„Andrii wollte häufiger allein sein als andere Austauschschüler“, stellte Adalbert Hauck fest. Und er habe nicht über den Krieg oder die Lage in der Ukraine gesprochen. Allerdings habe er sich regelmäßig mit seinem Smartphone über die Entwicklung in seinem Heimatland informiert. Bis Ende August habe Andrii Sommerferien. Er freue sich aber bereits auf den Schulbeginn. Seiner Gastfamilie erzählte er, dass der Unterricht in anderen Gebäuden stattfinden oder online gegeben werden soll.
Pilotprojekt der Unesco
BGB-Schulleiter Jochen Schwab informierte darüber, wie der Besuch der ukrainischen Schüler zustande kam. Er habe eine Schulleiter-Tagung der Unesco-Projektschulen besucht. Dort habe er sich erkundigt, ob es möglich wäre, ukrainische Schüler als Gäste aufzunehmen. Man hielt die Idee für gut. Schwab verschickte daraufhin einen Aufruf an die Eltern von Zehntklässlern. Er erhielt 18 positive Rückmeldungen. Dies meldete er dem Bundeskoordinator der Unesco-Projektschulen. Dann ging es recht schnell voran. Der Unesco-Generalsekretär für Deutschland kontaktierte seinen für die Ukraine zuständigen Kollegen. „Innerhalb einer Woche sind die Schüler angereist“, sagte Schwab. Das BGB diene als Pilotschule für ähnliche Projekte.
Schwab blickt positiv auf den Aufenthalt der Schüler aus der Ukraine zurück. „Es war eine große Herzlichkeit spürbar“, sagte er. „Wir wollen freundschaftlich verbunden bleiben auch in schwierigen Zeiten.“ Bisher bestehe zwar noch kein Kontakt zur Schulleitung des „Lyzeum Nummer 25“, man werde diesen aber aufnehmen. Schwab lobte den Einsatz von Gymnasiasten für die Gastschüler. Jene hätten zum Beispiel eine Stadtrallye, eine Wanderung zur Tropfsteinhöhle und einen Spielevormittag organisiert. Und es hätten immer Schüler, die Russisch sprechen konnten, als Dolmetscher zur Verfügung gestanden.
Im Rahmen des Abschiedsfestes am Mehrgenerationenhaus übergaben Verantwortliche des „Help! Sommermärchen-Team“ 2000 Euro als Spende – nicht, um die Ausflüge nach Stuttgart in die Wilhelma oder in andere Städte zu finanzieren. Diese Kosten übernahm die Unesco. Das Geld war für Einkäufe der Schüler gedacht. Denn die Jugendlichen waren mit sehr kleinem Gepäck angereist. „Andrii hatte nur zwei lange und zwei kurze Hosen und ein paar T-Shirts dabei“, sagte Anke Hauck. Jetzt reist der 15–Jährige mit eine größeren Tasche in seine Heimat zurück. Auf die Frage, ob er nicht lieber in Deutschland bleiben wolle, antwortete er: „Mutterland ist Mutterland.“